Vier Wege raus aus dem Mangel-Denken

Vier Wege raus aus dem Mangel-Denken

In den letzten Tagen lag ich nachts öfter wach, weil ich mit meinem großen Babybauch keine bequeme Position fand. So langsam entstand dabei in meinem Kopf dieser Blogartikel. Und dann stieß ich morgens auf ein interessantes Interview aus der Berliner Zeitung, in dem es genau um den Inhalt dieses Artikels ging! Der Chef der Deutschen Schulakademie wurde darin interviewt; auf seine Ideen werde ich hier also auch eingehen.

Worüber dachte ich also nachts immer wieder nach?

Wenn wir an Schule denken und über Schule sprechen, tun wir das oft aus einem Mangel heraus. Manchmal sogar unabhängig von konkreten örtlichen Begebenheiten. Ich schreibe hier also nicht in erster Linie über das, was ist, sondern darüber, wie wir darüber denken. Wir geben der Schule allgemein sozusagen die Note ‚mangelhaft‘. Deshalb möchte ich heute genauer hinschauen: An welchen Stellen kreieren wir genau einen Mangel? Welchen Preis zahlen wir dafür? Und welche Wege führen heraus aus diesem Mangel-Denken?

Mangel an Ausstattung

Aktuell wird dieser Mangel besonders im Zusammenhang mit der digitalen Ausstattung gesehen. Es fehlt an allen Ecken, sowohl in der Schule als auch uns LehrerInnen und SchülerInnen. Es gibt kein WLAN, keine Online-Lernplattformen, keine Tablets. Die digitalen Kenntnisse wurden nicht durch Fortbildungen erweitert. Und die nächste Welle des Distanzlernens wird wieder eine Katastrophe. In den letzten Monaten ist – weder vonseiten der Schulleitungen noch der Ministerien – etwas passiert, sodass die Versäumnisse der letzten Jahre nicht aufgearbeitet wurden.

Vor den Schulschließungen im März diesen Jahres ging es eher um etwas Anderes. Da war die digitale Revolution im Arbeitsalltag so weit weg, dass es schon ein Erfolg war, wenn der OHP nicht defekt war. Da fehlte es an zusätzlichem und in ausreichender Menge vorhandenem haptischen Material für den Einsatz im Unterricht, oder man wünschte sich vielleicht eine Dokumentenkamera.

Allen Argumenten ist gemeinsam: Lernen und Unterricht wären viel einfacher, effektiver und motivierender, wenn es eine bessere und moderne Ausstattung gäbe. Auch der Bildungsforscher Hans Anand Pant spricht vom „Technikmangel-Syndrom“, an dem unsere Schulen leiden. Wobei er von dem spricht, was ist. Er ist schließlich Bildungsforscher und kein Blogger 😉

Ja, besonders bei diesem Aspekt sind Realität und Interpretation sehr nah beieinander. Und doch fällt auf, dass vorhandene Ansätze in der Diskussion unterschlagen werden. Ich arbeite an einer Schule, wo den SchülerInnen im wörtlichen Sinne die Decke auf den Kopf fällt und selbst die Schulleitung in ihrem Dienstzimmer keinen Handyempfang hat. Auch ohne Phasen von Distanzlernen ist tatsächlicher Ausstattungsmangel also präsent. Ich behaupte aber, dass wir uns darin nicht eingerichtet haben, sondern im Rahmen unserer Möglichkeiten weitermachen. Zu den Lösungen weiter unten mehr.

Mangel an Zeit

Selbstverständlich finden wir Zeitmangel nicht nur in Schulen. Er ist so normal geworden, dass wir ihn gar nicht mehr als Mangel wahrnehmen und als unumstößlich hinnehmen. Als LehrerInnen sprechen wir über kurze Schuljahre, ungünstige Lage von Stunden im Plan und zu wenig Unterrichtszeit für das Abarbeiten von vollen Lehrplänen. Wer donnerstags und / oder freitags eine Doppelstunde in einem Kurs hat, hat eigentlich sofort verloren, weil sämtliche Brückentage dort liegen. Darüber hinaus sind aber auch alle Stunden am Nachmittag Zeitvergeudung, genauso wie die erste Stunde am Morgen. Naja, und über Schulveranstaltungen, die uns unsere Unterrichtsplanung zerschießen, brauchen wir gar nicht erst zu sprechen.

Für KlassenlehrerInnen wird die Unterrichtszeit knapp, weil Klassenangelegenheiten geregelt werden müssen. Im schlimmsten Fall gibt es einen großen Konflikt in der Klasse, sodass die verfügbare Zeit komplett dafür drauf geht und wir ‚gar nichts‘ geschafft haben. Die Option, krank zu werden und deshalb noch mehr Zeit zu verlieren, erscheint vor diesem Hintergrund wie ein drohendes Damoklesschwert.

Primat des Prüfens über das Lernen

Der Zeitmangel entsteht also auch oft dadurch, dass das Lernen und Überprüfen des Gelernten als wichtiger gelten als die soziale Situation, in der dies geschieht. Hans Anand Pant nennt das im Interview ein „Primat des Prüfens über das Lernen“. Das könne man daran erkennen, dass die offiziellen Regelungen in der Krise vor allem darauf abzielten, Prüfungen stattfinden zu lassen.

„Erst in zweiter Reihe ging es darum, wie man Kinder in dieser Ausnahmesituation pädagogisch professionell begleitet, insbesondere diejenigen, die bereits benachteiligt sind.“

Hans Anand Pant im Interview mit der Berliner Zeitung am 16.8.2020

Zeitmangel begünstigt Methoden der Konditionierung

Übrigens tendieren wir in Schulen – ganz anders als vielleicht bei der Erziehung unserer eigenen Kinder – zu Methoden der Belohnung und Bestrafung, weil es zeitökonomisch ist. Es wirkt übersichtlich und klar, wenn Kinder in der Grundschule eine bestimmte Anzahl von Klotalern einsetzen dürfen. Die Sternchen-Wand im Klassenraum der 6a wird bei ruhigen Stunden gefüllt, aber nicht, wenn die LehrerInnen viel meckern müssen. Fehlen die Hausaufgaben zum dritten Mal in zwei Wochen, gibt’s einen Elternbrief als schriftliche Standpauke.

Beziehungsarbeit erscheint dagegen aufwendig, weil die Ergebnisse manchmal auf sich warten lassen. Und es braucht mitunter auch mehr Kommunikation mit einzelnen SchülerInnen, die zeitlich irgendwoher geholt werden muss. In unseren Köpfen scheinen sich Beziehungsorientierung und effizientes Lernen auszuschließen.

Mangel an Kooperation

Auch hier sind Realität und gedanklicher Standpunkt ähnlich.

Könnten wir einige LehrerInnen filmen, würden wir viel Einzelarbeit sehen. Und so nehmen sie selbst ihre Arbeit auch wahr. Es gibt LehrerInnen, die gerne innovative Ideen ausprobieren würden, das aber nicht allein tun wollen. Sie führen dann an, dass ihre Fachschaft – oder gar das gesamte Kollegium – nicht dahinter stehe. Und es gibt sogar solche, die tatsächlich ins innovative Tun kommen, aber mit ihrer Arbeit hinterm Berg halten, weil die anderen das (vielleicht) nicht unterstützen würden. Nicht zu vergessen sind diejenigen, die gar kein Interesse an Kooperation haben. Bildungsforscher Pant nennt es das „Einzelkämpfer-Syndrom“.

Für viele LehrerInnen beschränkt sich Kooperation auf das Austauschen von Unterrichtsmaterial. Dabei ist Ko-Konstruktion, also z.B. gemeinsame Planung, Durchführung und Reflexion von Projekten, ein Level, das noch darüber liegt. Auch der Bereich der Persönlichkeitsentwicklung steht im Zeichen vom Engagement Einzelner und wird ungern offen thematisiert. Kollegiale Unterstützung wird eher als Angriff auf die eigene Kompetenz erlebt.

Insgesamt schwingt ein Denken mit, bei dem Kooperation ‚on top‘ zur bestehenden Arbeit dazu kommt. Die Möglichkeit, durch Kooperation oder Ko-Konstruktion sogar Arbeitszeit zu teilen und damit für eigene Entlastung zu sorgen, steht eher im Hintergrund.

Mangel an Motivation der SchülerInnen

Würden wir eine Unterrichtssituation filmen und verschiedene LehrerInnen nach dem Grad der Motivation und des Engagements der SchülerInnen befragen, bekämen wir wahrscheinlich unterschiedliche Antworten. Das liegt daran, was wir eigentlich über SchülerInnen denken, was für uns ein idealer Schüler oder eine ideale Schülerin ausmacht und was wir von ihnen erwarten. Das prägt unsere Wahrnehmung genauso wie unsere Idee von Führung oder gutem Unterricht.

Dass wir mit motivationslosen Kindern und Jugendlichen ein hausgemachtes Problem haben, sehen nur die Wenigsten. Wie du dir bei deinem Denken über Jugendliche auf die Schliche kommst, kannst du in meinem Blogartikel „Wie sehen wir Jugendliche?“ herausfinden.

Mangel an Anerkennung

…und zwar von allen Seiten. So viele Menschen stellen (verschiedene) Ansprüche an diesen öffentlichen Beruf. Hier möchte ich einmal die Bedeutung der Schulleitung hervorheben. Egal, ob in einem Unternehmen oder in einer Schule – MitarbeiterInnen wünschen sich von Führungskräften ein offenes Ohr, Wertschätzung und Anerkennung ihrer Leistung. In Schulen mag es noch einmal eine besondere Situation sein, weil LehrerInnen selbst Führungskräfte in ihren Klassen sind und sich sozusagen ‚obere Manager‘ und ‚untere Manager‘ daraus ergeben. Trotzdem: Die Produktivität für und Identifikation mit der Schule hängen enorm von der Kommunikationskultur dort ab.

Ich glaube nicht, dass LehrerInnen mehr Anerkennung ‚brauchen‘ als andere Berufsgruppen. Doch wenn von außen (von Eltern, Journalisten oder Politikern) immer wieder Kritik geäußert ist, ist es günstig, wenn im eigenen Haus eine andere Kultur vorherrscht. Wohl deshalb erleben wir unsere Arbeit häufig als wenig anerkannt.

Die Kehrseite der Medaille ist, wenn wir uns von der Anerkennung Anderer abhängig machen. Auch darüber habe ich bereits in meinem Blogartikel „Reif für die Ferien oder fit in die Ferien?“ geschrieben.

Welchen Preis zahlen wir dafür?

So gesellig der Mangel-Standpunkt auch ist; wir zahlen dafür einen Preis! Es geht uns selbst dadurch nicht besser. Und die Qualität unserer Arbeit steigt dadurch auch nicht. Allen Punkten ist gemeinsam, dass wir uns in der Opferrolle sehen, auf dem Opferstandpunkt denken und daraus handeln. Damit entmachten wir uns selbst! Wir schieben die Schuld immer weiter oder zurück zu den ‚wirklich Verantwortlichen‘, sodass letztlich sogar Schulentwicklung gebremst wird.

Im Mangel ist es außerdem nie genug. Auch Digitalisierung macht dann keinen Unterschied! Letztlich ist es mit mehreren Tausend Tablets für das Distanzlernen genauso wenig getan wie mit Smartboards in jedem Klassenraum. Hat sich schon jemand überlegt, wer diese Technik warten soll? Auch fortgebildete Lehrkräfte sind keine Technik-Experten. Müssen sie, nebenbei bemerkt, auch nicht sein. So hapert es dann daran, dass die Technik nicht funktioniert…und der Mangel zieht sich fröhlich weiter durch.

Im Zeitmangel leidet als Erstes die Beziehung zu uns selbst. Wir neigen dann dazu, wichtige Grundbedürfnisse im hektischen Schulalltag hinten an zu stellen. In der Konsequenz leidet die Beziehung zu unseren SchülerInnen, weil wir nicht auf uns achten und deshalb schon im Mangel den Klassenraum betreten. Doch sie sind unsere wichtigste Bezugsgruppe! Es ist ein bisschen so, als würde ein Unternehmer funktionierende Kunden erwarten, die sich bitteschön mit dem zufrieden geben sollen, was er gerade noch anbieten kann. Klingt nicht nach einem erfolgreichen Businesskonzept. Bevor du nun denkst: Was hat ein Unternehmer denn mit einer Lehrkraft gemeinsam? Das zeige ich dir im Artikel „Was Lehrer von Unternehmern lernen können“.

Gehen wir grundsätzlich von unmotivierten SchülerInnen aus, bekommen wir auch bald die Quittung: unmotivierte SchülerInnen 😉 Wir kreieren durch ein Denken im Mangel irgendwann einen tatsächlichen Mangel. UND die Kinder und Jugendlichen bekommen ganz genau mit, dass wir so unterwegs sind. Das heißt, sie übernehmen das Mangel-Denken und wenden es auf sich selbst und ihr Leben an.


Vier Wege raus aus dem Mangel-Denken

So. Wie kann nun eine Lösung aussehen? Hier habe ich ein paar Ideen gesammelt:

Unterscheide zwischen dem, was ist und deiner Interpretation.

Das ist wirklich hilfreich, viele Menschen wissen gar nicht, dass dazwischen ein Unterschied besteht! Du kannst dich immer fragen:

  • Was an der Situation könnte ich tatsächlich filmen?
  • Und was lege ich sozusagen als gedankliche Tonspur darüber?

oder:

  • Was könnte ich technisch messen?
  • Und wie bewerte ich das?

Stell‘ dir vor, die tatsächliche Situation und deine Interpretation sind zwei Blätter Papier, die zusammenkleben. Im ersten Moment siehst du nur ein Blatt. Doch wenn du das obere Papier abziehst und so beide voneinander trennst, kannst du dir beide Blätter unabhängig voneinander anschauen. Das Trennen des Papiers ist echte Trainingssache!

Beispiel: „Lara aus der 10a ist so unmotiviert und desinteressiert an meinem Unterricht!“ – Frage dich: Was genau tut Lara (nicht), sodass du denkst, sie sei unmotiviert und desinteressiert?

Diese Kommunikation empfehle ich dir übrigens für jedes Schüler- oder Elterngespräch! Denn mit dem ersten Satz kann eigentlich niemand etwas anfangen. Wenn du aber konkretes Verhalten benennst, kann dein Gegenüber Stellung dazu beziehen.

Mache dir den Zweck deines bisherigen Standpunkts bewusst.

Dieser Punkt mag zunächst unangenehm sein. Dein Mangel-Denken auf dem Opfer-Standpunkt erfüllt schließlich einen Zweck. Um diesen aufzuspüren, frage dich: Was will ich damit vermeiden oder was erhoffe ich mir dadurch? So ein Standpunkt ist nämlich perfekt als Begründung dafür geeignet, gar nicht erst loszugehen und etwas zu verändern. Weil die anderen ja schuld sind.

Am Beispiel der Kooperation: Wozu verhinderst du bisher Kooperation mit anderen? Was willst du vermeiden oder was erhoffst du dir dadurch? Denkst du, du kannst es alleine besser? Oder schneller? Wer glaubst du, sind die anderen, dass sie dein Wissen und Können nicht verdient haben?

Wenn du darauf deine ehrlichen Antworten gefunden hast, kannst du dein Verhalten ändern. Du kannst dich zusammentun mit Gleichgesinnten, und zwar NICHT nur im Kollegium. Welche KollegInnen an anderen Schulen kennst du, von denen du direkt profitieren kannst? Welche außerschulischen Kontakte hast du, die dir bei einer Lösung behilflich sein können? Mach‘ deinen Horizont möglichst weit.

Finde heraus, was für dein erfülltes Lehrerdasein funktioniert.

Wofür bist du in diesem Job angetreten? Und wie weit bist du aktuell von diesem Vorhaben entfernt?

Es gibt immer Freiräume, die du nutzen kannst, mögen sie auch klein sein. Die Welt retten kannst du vermutlich nicht – dieser Anspruch funktioniert sowieso nicht für ein gelassenes Lehrerleben. Aber was funktioniert? Auch, wenn es ungewöhnlich ist? Hierzu kannst du auch gerne in meinen Artikeln über das gehirngerechte Latein-Lernen in meinem Kurs lesen. Denn ich war als Lateinlehrerin vor ein paar Jahren wirklich frustriert. So frustriert, dass mir der Lateinunterricht kaum noch Spaß gemacht hat. Und ich liebe diese Sprache! Also habe ich mich aufgemacht und einen ungewöhnlichen Weg gefunden, wieder Spaß und Erfolg in den Unterricht zu bringen. Dafür war es nötig, mit scheinbar unumstößlichen Meinungen ins Gericht zu gehen. Und siehe da: Es geht auch anders!

Reflektiere dich und deine Haltung immer und immer wieder.

Deshalb gibt es diesen Blog und mein Coaching für LehrerInnen, die inspiriert sein und bleiben wollen. Weil unsere Arbeit so komplex ist, ist es notwendig, immer wieder die eigene Haltung zu reflektieren. Was ist meine Absicht? Wofür bin ich LehrerIn? Was ist mein Beitrag? Bin ich noch auf Kurs? Dazu findest du hier viel Inspiration!

Seitdem ich diese Gedanken für dich aufgeschrieben habe, kann ich tatsächlich wieder besser schlafen – und entwickle keinen Schlafmangel 😉 Der führt bekanntlich auch dazu, dass wir die Dinge eher negativ betrachten. In diesem Sinne,

schlaf gut!

Deine Ann-Marie

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