Mir schwirrt der Kopf. Seit Tagen wollte ich diesen Artikel schreiben, ich kam nicht voran. Dann lag ich eines Abends unruhig im Bett und plötzlich fiel es mir ein: Zeit. Ich brauche Zeit, mich zu orientieren. Ruhe für neue Gedanken und Ideen. Wir Lehrerinnen und Lehrer brauchen Zeit, um uns zu orientieren. Ruhe für neue Gedanken und Ideen. Nicht während des laufenden Betriebs die digitale Revolution erarbeiten. Nicht während des laufenden Betriebs die Arbeit alle 14 Tage an neue, immer engere(!) Vorschriften anpassen. Nicht während des laufenden Betriebs pauschale Angriffe von Journalisten bzw. Eltern aushalten müssen.
Im Besonderen meine ich damit die Kommentare in der ZEIT („Ruf mich an!“ vom 23.4.) und der WELT („Liebe Lehrer, euer Versagen ist unser Untergang“ vom 23.4. sowie die beiden Anschluss-Artikel vom 27.4. und 3.5.). Am Ende des Artikels habe ich alle noch einmal verlinkt.
Das Wort des Jahres: ‚Konzept‘?
Wir hatten doch wohl zwei Wochen in den Osterferien! Wir hätten doch wissen müssen, dass es nach Ostern nicht mit dem Präsenzunterricht weitergehen würde! Das kritisiert auch Judith Luig in der ZEIT. Die Vorstellung ist so schön. Und dann hätten wir aus dem Nichts einen einwandfreien Plan aus dem Boden gestampft und – schwupps – würde er durch geänderte Vorgaben nahezu verunmöglicht. Was gestern noch erlaubt war, ist heute verboten und morgen Vorschrift (dazu weiter unten eine interessante Geschichte).
Ich kann schon nachvollziehen, dass Manche von uns müde sind, weil sie in der Vergangenheit unzählige Konzepte erarbeitet haben, die dann aufgrund irgendwelcher neuer Vorgaben nicht umgesetzt werden konnten. Abgesehen davon, dass Schulleitungen gerade quasi kein Privatleben haben, weil sie in erster Linie Raumkonzepte, Hygienekonzepte, Personaleinsatzkonzepte und Durchführungskonzepte für Abitur oder 10er-Abschluss erstellen. Dafür können dann schon mal zwei Wochen in den Ferien draufgehen….vielleicht wird aber das Wort ‚Konzept‘ noch das Wort des Jahres 2020.
Schuld sind immer die Anderen
Die meisten Schulleitungen ertrinken gerade in Organisation und sind weit entfernt von digitalen Konzepten. So steuern sie ihr Kollegium erstmal. Es braucht in Organisationen von 50-150 Mitarbeitern Beziehungsqualität und Infrastruktur, die bereits vor Zeiten wie diesen vorhanden sein mussten: Wird im Vertrauen gesteuert oder im Misstrauen kontrolliert? Werden meine Ideen angenommen? Gibt es klare Ansprechpartner für bestimmte Aufgaben, die nun wichtig sind? Wie bestimmen wir diese, wenn es sie noch nicht gibt? Auf dieser Basis gehen Einzelne im Kollegium los und nehmen alle mit. Wenige Schulen haben es innerhalb der Osterferien geschafft, das zu nutzen.
Status quo ist jedoch: Schuld sind immer die Anderen. Entweder sind es die LehrerInnen, die Schulleitungen, die Bezirksregierungen bzw. Schulämter, die Schulministerien der Länder, das Bildungsministerium, Eltern oder SchülerInnen. Habe ich jemanden vergessen?
Mittendrin stehen wir LehrerInnen. Mir fällt das Bild von Marionetten ein, die in alle Richtungen gezogen werden. Während die anderen Parteien an uns zerren, regen sie sich gleichzeitig darüber auf, dass wir nicht in die Puschen kommen. Nach mittlerweile zwei Monaten des Distanzlernens könne man ja wohl mehr erwarten als Aufgaben abzuschicken und dann eine Woche nichts mehr von sich hören zu lassen.
Selbstreflexion statt erhobenem Zeigefinger
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Mein letzter Artikel beschäftigte sich auch mit Angst und Druck bei LehrerInnen in den ersten Wochen der Schulschließungen, die reflexartig zu Materialbergen für SchülerInnen führten. Wir müssen uns mehr denn je mit unserer eigenen Persönlichkeitsentwicklung befassen, wenn sich Schule wirklich ändern soll. Und darüber hinaus habe ich mich bei Instagram und Facebook aktiv für die Initiative #ichbinraus eingesetzt, bei der alle an Schule Beteiligte aufzeigen konnten, was für sie im Distanzlernen nicht funktioniert. Nur ist es ein Unterschied, ob ich davon spreche, wo meine eigenen Grenzen sind, die ich nicht mehr überschreiten will oder ob ich mit erhobenem Zeigefinger mein Gegenüber grundsätzlich als Versager abstempele.
Wichtig ist die Absicht dahinter: Beide Seiten wollen, dass das Lernen für die SchülerInnen bestmöglich funktioniert. WIE kriegen wir das hin? Und darin stimme ich eben nicht mit den beiden Journalisten der WELT überein, die unserem ganzen Berufsstand grundsätzlich absprechen, sich für die Kinder und modernes Lernen einsetzen zu wollen.
24/7 LehrerIn sein
Mittlerweile, da stimme ich den JournalistInnen zu, sollten wir bei einem höheren Niveau des Distanzlernens angekommen sein. Es ist aber bekanntlich so: Der Ton macht die Musik. Die Kritik klingt so, als wären Lehrerinnen und Lehrer grundsätzlich Menschen ohne Familie oder eigenes Leben und müssten nun 24/7 ihrem Beruf nachkommen – das, was verlangt wird (und im dritten Artikel der WELT schließlich auch als Norm für alle LehrerInnen propagiert wird!), ist nämlich für Viele nicht einfach so zu leisten.
Judith Luig führt in der ZEIT ein paar Beispiele in der Mail-Kommunikation von Lehrkräften mit Kindern an, die scheinbar den Durchschnitt der Anstrengungsbereitschaft deutscher Pauker zeigen sollen. Dass dabei Lösungen anstatt korrigierter Aufgaben in der Antwort-Mail geschickt werden, ist wohl ein Beweis für Bequemlichkeit.
Ein Rechenbeispiel: Volle Stelle an der Gesamtschule heißt mindestens 100 Schüler, je nach Fächern eher 150. Reichen bei guter Kommunikation von 150 Kindern 100 wöchentlich ihre Aufgaben wieder ein und nehme ich mir nur (utopische) 15 Minuten pro Schüler Zeit, korrigiere ich 25 Stunden lang Aufgaben. Zurückgemeldet habe ich da noch nichts. 25 Stunden, in denen ich keine digitale Revolution einläuten kann. Noch nichts Neues erstellt, mit niemandem telefoniert, gemailt, gezoomt. Nehmen wir für die Rückmeldung evtl. nochmal 15 Minuten pro Kind, sind 50 Stunden reine Arbeitszeit erreicht.
Mein Tagesablauf
Tja: Ich schicke auch keine korrigierten Aufgaben zurück, obwohl ich keine volle Stelle mache. Nicht etwa, weil ich lieber meinen Bücherschrank alphabetisch sortiere. Ich bin tagsüber für unsere beiden Kleinkinder da und hänge währenddessen ständig am Handy oder Tablet, um für die SchülerInnen erreichbar zu sein. Eigentlich bin ich meistens geistig woanders. Ab 19 Uhr erreiche ich den Schreibtisch und verschaffe mir irgendwie den Überblick über abgegebene Aufgaben, noch offene Schülerfragen bei Whatsapp oder per Mail, aktuelle und kommende Materialien und geplante Videokonferenzen mit den einzelnen Kursen.
Letztere nutze ich als praktikablen Ersatz für das Zurücksenden der Korrekturen, weil ich dabei wenigstens mit meinen SchülerInnen in Kontakt treten und besser erklären kann. Durch meine Schwangerschaft bin ich ab 21 Uhr völlig durch. Deshalb habe ich immer noch kein Erklärvideo fertig, obwohl ich die wirklich nutzen will. Gleichzeitig trifft es mich weniger hart: Ich bin nämlich weder zwischendurch für Notbetreuung eingeteilt noch habe ich eine zentrale Funktion in unserer Schulgemeinde inne.
Ich bin, oh Wunder, keine Ausnahme. Wie viele LehrerInnen haben Kinder und sind in der exakt gleichen Situation wie ‚die‘ Eltern? Wie viele LehrerInnen pflegen Angehörige? Wie viele LehrerInnen sind älter als 60 Jahre und meilenweit von digitalem Unterricht entfernt? Und diese unvollständige Liste von Personen soll also wie alle Anderen – am besten individuell, wenn die Schule nichts vorgibt – die digitale Revolution ausarbeiten?
Allgemeiner Standpunkt: Lehrer als faule Säcke
Aber was beschwere ich mich hier auf hohem Niveau: Unser Job werde ja wohl auch gut genug bezahlt, dass man das jetzt von uns erwarten könne. Aha. Also wäre es bei weniger Gehalt egal, was wir tun? Das glaube ich ja eher nicht. Dieses Argument spielt all jenen in die Hände, die auch schon vor Corona glaubten, Lehrkräfte seien „faule Säcke“. Denn dieses Zitat von Altkanzler Schröder ist 25 Jahre alt. Für Einige können wir also gar nicht genug tun oder es ist gerade gut genug. Und dann wirken eben die KollegInnen ohne Email-Adresse stellvertretend für alle anderen.
Wozu Lehrer-Bashing?
Genug von persönlicher Betroffenheit. Mich interessiert an der Diskussion, die in der ZEIT und der WELT Ende April entfacht wurde, etwas Anderes. Die Autoren der WELT berichten im Anschluss an ihren „emotionalen Appell“ von einem riesigen Echo sowohl von Eltern- als auch von Lehrerseite. Sie stellen in ihrer Einleitung vom 27.04. fest: „Der Streit ist unerbittlich, hat aber eine wichtige Wirkung.“ Ich frage mich: Welche Wirkung hat er denn? Trägt er wirklich dazu bei, dass wir im Sinne der Kinder und Jugendlichen an einem Strang ziehen? Oder vergrößert er die Distanz zwischen Schulen und Familien?
Wozu diese Kommentare, die bewusst subjektiv kritisieren? Die damit absichtlich über einen Kamm scheren und von dem „Homeschool-Lehrer“ (ZEIT) sprechen? Geht es nur so, dass LehrerInnen in die Ecke getrieben werden müssen, damit sich etwas bewegt? Was hat Journalisten davon abgehalten, direkt nach den leuchtenden Beispielen zu suchen, die sie ja wenige Tage später Anfang Mai vorgestellt haben? Oder war es wirklich unmöglich, sie zu finden und man musste sie erst aufscheuchen? Paradox: Mindestens drei von ihnen sind digital sehr gut vernetzt und daher auch gut auffindbar…
Lehrer haben „keine Ausreden“ mehr
Es drängt sich mir der Eindruck auf, dass es den AutorInnen nicht um eine echte Veränderung gehen kann. Denn selbst, als in der WELT AM SONNTAG vom 3. Mai verschiedene LehrerInnen zu Wort kommen, die „sich rund um die Uhr aufreiben“, wird deren engagierte und pionierhafte Arbeit als neue Richtschnur verwendet. Die Meisten von ihnen waren auch schon vor den Schulschließungen digital unterwegs. Interessant auch der Titel: „Liebe Eltern, nach dieser Geschichte haben Ihre Lehrer keine Ausreden mehr„. Denn wir könnten es, wenn wir nur wollten. Welche grundsätzliche Auffassung über unseren Berufsstand soll damit bitte zum Ausdruck kommen? Nach der Lektüre werden Eltern zueinander sagen: „Siehste, geht doch! Und bei uns läuft das gar nicht! Ein Armutszeugnis für unsere Schule xy bei den beratungsresistenten Lehrern hier!“
Blöd für ihre Kinder. Die sitzen die ganze Zeit zwischen den Stühlen, wollen weder ihre Eltern nerven noch ihre Lehrer enttäuschen. Das äußert sich auch darin, dass sie komplett streiken und jede Aufgabe zum Kampf wird. Auf ihnen lastet der Druck am meisten. Selbst wenn daraufhin Schulen ihr bisheriges Vorgehen ändern sollten, ist die Kluft durch diese Aktion noch größer geworden. Wie gesagt, ich sehe auf Lehrerseite durchaus Reflexionsbedarf. UND das macht es einfach nicht besser.
Lehrer sollen Pioniere sein
Natürlich wäre es toll, wenn unsere Schule eine voll einsatzfähige Lernplattform hätte, auf der wir alles organisieren können und gemeinsam mit dem gesamten Kollegium einen Kommunikationsweg mit den Kindern und Jugendlichen hätten. Solange es das nicht gibt, sollen wir uns doch einzeln etwas überlegen, vorpreschen, Pioniere sein! Ja…und wenn wir das jeder einzeln machen, haben wir eine bunte Mischung aus kopierten Arbeitsblättern per Mail, Erklärvideos bei Padlet, Materialien bei Whatsapp und Videokonferenzen bei Zoom. Das nervt Eltern aber genauso. Dann doch bitte alles einheitlich. Ja, was denn nun?
Von Lehrerseite wird die fehlende Unterstützung durch Schulleitung, Dienstherr oder Ministerium bemängelt. Meine kleine Umfrage unter 50 LehrerInnen bei Instagram ergab: Bei 60% nimmt ihre Schulleitung ihre Ideen zum Distanzlernen an und unterstützt sie. 75% dürfen momentan so kreativ mit ihren Kursen arbeiten, wie es für die Beteiligten gut funktioniert. Das heißt auch, 40% sehen sich nicht unterstützt und 25% dürfen eben keine individuellen Wege gehen. Besonders die Instalehrer-Gemeinde zeichnet sich durch Engagement, Austausch und Kreativität aus. Ich kann also annehmen, dass das eher nicht die kritisierten abtauchenden KollegInnen sind.
Wenn Pionierarbeit sabotiert wird
Es gibt nämlich auch diese Seite: Ideen von KollegInnen, die aktiv von Schule und Schulamt verhindert werden. Damit die anderen nicht bloßgestellt werden ob des Vorpreschens des Einzelnen. Mich kontaktierte vor Kurzem ein Kollege, der noch vor Ostern die Kommunikation mit seiner Schulleitung gesucht hatte. Er sei eingearbeitet in eine super Lernplattform und würde auch dafür sorgen, dass das gesamte Kollegium sich mit seiner Hilfe darin einarbeite. Für die Schulleitung würde also gar keine Mehrarbeit entstehen und auch das Kollegium hätte einen Ansprechpartner.
Die Lernplattform biete den Kindern unterschiedliche Lerngelegenheiten und zugleich könne die Kommunikation mit ihnen aufrecht erhalten werden. Dann bekam er einen Anruf von seiner zuständigen Bezirksregierung, nachdem seine Schulleitung dies gemeldet hatte: Er dürfe diese Lernplattform nicht nutzen! Er stelle die anderen LehrerInnen an seiner Schule bloß, die noch nicht so digital unterwegs seien! Und die Situation bei den Kindern zuhause führe zu einer weiteren Ungleichheit, die nicht forciert werden solle.
Dass in seiner Klasse nahezu alle Kinder die Lernplattform hätten nutzen können, wurde ignoriert. Stattdessen wurde kritisiert, dass seine Klasse dadurch einen Vorteil gegenüber den anderen Klassen hätte. Das erinnerte mich stark an den Fall von Sabine Czerny, die strafversetzt wurde, weil sie zu gute Noten gegeben hatte.
Und heute? Seine Schulleitung schickt einen Link an das Kollegium, der genau auf diese Lernplattform verweist. Jetzt sollen sie doch bitte Alle damit arbeiten! Da fühlt man sich doch leicht auf den Arm genommen.
Was ist die gemeinsame Absicht?
Geschichten wie diese können genauso wenig stellvertretend für die Arbeit aller Lehrkräfte gelten wie die Berichte über das „Versagen“ derjenigen aus der WELT und der ZEIT. Es gibt eben nicht den „Homeschool-Lehrer“. Das Einzige, was uns jetzt weiterbringt, ist die gemeinsame Absicht für die SchülerInnen. Darüber sollten wir sprechen, wenn wir Veränderungen bewirken wollen. Es nützt nichts, subjektive Erfahrungen und eine Hand voll vorzeigbare Beispiele mit dem erhobenen Zeigefinger zu präsentieren.
Welchen Standpunkt hast du in dieser Diskussion? Das interessiert mich sehr! Lass‘ also gerne einen Kommentar da!
Auf folgende Zeitungsartikel habe ich mich heute bezogen:
- Sommerfeldt, N. & Zschäpitz, H.: Liebe Lehrer, euer Versagen ist unser Untergang. In: WELT vom 23.04.2020
- Sommerfeldt, N. & Zschäpitz, H.: Erboste Lehrer, frustrierte Eltern – dieser Streit offenbart eine tiefe Kluft. In: WELT vom 27.04.2020
- Sommerfeldt, N. & Zschäpitz, H.: Liebe Eltern, nach dieser Geschichte haben Ihre Lehrer keine Ausreden mehr. In: WELT AM SONNTAG vom 03. Mai 2020
- Luig, J.: Ruf mich an!. ZEIT ONLINE am 23.04.2020
P.S.: Hier findest du meinen Artikel für mehr Wertschätzung für LehrerInnen!