Oder: „Bei den Hausaufgaben kann ich meinem Kind nicht helfen, mein Matheunterricht war grauenvoll.“ Schlimmer: „Mädchen brauchen doch eh kein Mathe, Physik oder Chemie!“ Solche und ähnliche Sätze habe ich oft gehört und höre sie noch. Eltern sagen es beim Elternsprechtag, und wenn dort, dann auch Zuhause. Natürlich ist dahinter die Absicht, dass sich Kinder nicht schlecht fühlen müssen, wenn sie in einzelnen Fächern vergleichsweise schlechtere Noten haben oder sich schwer tun. Aber wieso ist das für die Kinder doof, wenn Eltern so etwas sagen?
Es entsteht ein doppeltes Problem. Zum einen erhalten die Kinder quasi eine Rechtfertigung dafür, dass sie dieses Ergebnis haben. Zum anderen müssen sie sogar das Ergebnis klein halten, weil Kinder ihren Eltern immer folgen. (Man könnte auch sagen, sie kooperieren immer.)
Rechtfertigung schon mitgeliefert
Es ist nicht nur unter Eltern so, dass das Fach Mathematik als Hassfach, langweilig, lebensfern, theoretisch oder sonst etwas abgestempelt wird und man deswegen nichts behalten konnte. Diese Meinung wird generell in der Öffentlichkeit gerne vertreten. In einem Interview erklärte Mathematikprofessor Jürgen Flachsmeyer kürzlich:
In der Tat ist es gesellschaftlich salonfähig, seine schlechten Mathekenntnisse zum Besten zu geben. „Ich konnte noch nie richtig schreiben“, so kokettieren Prominente dagegen selten.
(Jürgen Flachsmeyer im Interview, Spektrum vom 19.2.2019)
Von mehreren Seiten wird also die Rechtfertigung schon mitgeliefert. Klar gibt es Mathe-Unterricht in der kritisierten Form und daran müssen Schulen auch arbeiten. Wie die Schule den SchülerInnen Mathe nicht vermiest, das ist ein anderes Thema…UND es gibt definitiv innovative, spannende Ansätze. Mir geht es jetzt um die Rolle der Eltern. Wie sollen unsere Kinder neue Erfahrungen machen, wenn ihre Eltern ihre negativen Erinnerungen an den Unterricht ins Spiel bringen? Abgesehen davon kommt dabei oft ans Licht, dass es bei Mädchen scheinbar weniger schlimm ist, wenn sie Mathe (oder eigentlich sämtliche Naturwissenschaften) nicht verstehen. Hilfe! Wo leben wir eigentlich?
Die Message kommt bei den Kindern so an: ‚Wenn Mama und Papa sagen, sie hätten Mathe auch nie richtig verstanden, dann muss ich mich auch gar nicht erst darin versuchen.‘ Wie praktisch! Und damit ist die Tür für Neues, Kreativität und vielleicht sogar Spaß auch schon zu. Natürlich sind nicht alle Kinder Mathe-Fans. Auf die herkömmliche Art und Weise werden es aber auch nicht mehr, sondern eher weniger.
Kinder folgen ihren Eltern
Was bin ich als Mathelehrerin denn dann: ein Alien? Ein Freak zumindest, aber das bin ich mit Latein sowieso schon. Mir war und ist das egal, aber das ist es den meisten Kindern eben nicht. Keiner will als Freak angesehen werden, weil er oder sie gerne rechnet oder knobelt. Da hilft es schon, wenn die Eltern dahinter stehen. Oder würden womöglich Kinder ihre Eltern verraten mit dem eigenen Erfolg? Das Bild, das Eltern von ihren Kindern zeichnen, ist nämlich der Rahmen, in dem sie sich bewegen können. Und um des lieben Friedens willen zeigen die meisten das passende Verhalten – sie folgen den Eltern in diesem Bild von ihnen.
Wenn Kinder mitbekommen, dass ihre Eltern etwas ablehnen oder für sich als unerreichbar ansehen, glauben einige: Wenn ich das habe oder erreiche, verrate ich meine Eltern und ihre Art zu leben. Das kann auch so etwas sein wie Reichtum, Gesundheit oder Lebensfreude. Insofern ist Matheunterricht sehr wohl mit dem alltäglichen Leben verknüpft!
Potenzialentfaltung in einer Schule von morgen
Wenn es künftig gar keine Fächer mehr geben sollte, sondern verknüpfende Projekte und Lernen anhand von Phänomenen (siehe Finnland), könnte sich dieses Schubladendenken relativieren. Und trotzdem zählt das Bild, was Eltern von den Kindern zeichnen. In ihrem gemeinsamen Buch „Jedes Kind ist hoch begabt: die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen“ zeigen Gerald Hüther und Uli Hauser eine neue Perspektive auf. Statt den Mangel zu sehen, wird hervorgehoben, worin ein Kind ein besonderes Talent hat. Das betrifft mehr und andere Fähigkeiten als in der Schule heutzutage betrachtet werden: Liebe, Offenheit, Kreativität, Vertrauen, Beharrlichkeit, Achtsamkeit…
Wie wir in der Schule lernen, soll sich also ändern. Und damit aber auch das Bild, was wir von den Kindern haben und was sie zu leisten im Stande sind. Ansonsten beginnen wir mit Veränderungen des Systems und bleiben im alten Denken verhaftet. In der Konsequenz bleiben wir im Neuanfang stecken, es wird nicht zu Ende gedacht, beim kleinsten Widerstand geben wir auf und wir kommen nicht weiter.
Als Elternteil kannst du dazu Folgendes überlegen: Was erlaube ich mir selbst nicht zu haben oder zu sein? Gibt es Glaubenssätze, mit denen ich mein Kind begrenze? (Mathe ist eher was für Jungs, Das Leben ist kein Ponyhof, Schule ist langweilig, JETZT BEGINNT DER ERNST DES LEBENS…) Inwiefern könnten diese Glaubenssätze die Entwicklung deines Kindes hemmen oder in eine Richtung drängen?
Wenn wir gemeinsam in der Schule an solchen Einflussfaktoren arbeiten, kann das echte Potenzialentfaltung bewirken. Alle Schulen im Aufbruch haben sich diese Qualität auf ihre Fahnen geschrieben.