Ein Jahr Schule & Corona: Bildungsverlierer oder Beziehungsverlierer?

Ein Jahr Schule und Corona - Bildungsverlierer oder Beziehungsverlierer?

Der erste Gastbeitrag auf dem Blog kommt von Mechelke. Sie und ihr Mann haben zwei Mädchen von sechs und neun Jahren. Hauptberuflich arbeitet sie als Familienmanagerin und nebenberuflich als Coach. Da sie auch Frühpädagogin und Erzieherin ist, hat sie vor ihren eigenen Kindern viel berufliche Erfahrung in Kindergärten und Schulen gesammelt. Mechelke teilt hier mit uns, wie ihre Familie Schule unter Coronabedingungen seit einem Jahr erlebt – insbesondere ihre ältere Tochter Zoey in der Grundschule.

Letztes Jahr im Frühling. Der Ausnahmezustand, den ich in den fast vierzig Jahren meines Lebens noch nie erlebt hatte, beginnt. Meine Mädels und ich planen, dass wir uns eine schöne Zeit machen. „Was wollen wir machen?“, frage ich. „Wir schaukeln ganz viel!“ – „Oh ja, oder wir bauen eine riesige Sandburg.“ – „Und was wollen wir dieses Jahr anbauen? Kartoffeln, rote Beete?“ – „Ich möchte mein eigenes Beet anlegen!“ – „Ich schreibe meiner Freundin einen Brief.“ – „Ich will uns einen Stall bauen.“ – „Ich möchte Englisch lernen und Schlagzeug und einen Film drehen“, kommen die Ideen aus meinen Kindern herausgesprudelt.

Da das Wetter mitspielt, können wir jeden Tag in die Parzelle fahren und in der Sonne frühstücken. Die Schulsachen nehmen wir mit. Zoey lässt sich dann sehr lange bitten, diese auch zu erledigen. Immer wieder, jeden Tag schiebe ich sie in ihr vermeintliches Bildungsglück, die Arbeitszettel abzuarbeiten. Ich sitze daneben, um mich herum der Garten, der nach Aufmerksamkeit ruft und die Schwester, die im Kindergarten keine Aufgaben bekommen hat, tobt um mich herum.

Arbeitsblätter bearbeiten oder eigene Spiele ausdenken?

Inzwischen weiß ich, dass es etwa 10-20 Minuten dauert, bis Zoey anfängt, ihre Sachen zu erledigen und dann dauert und dauert es, für die kleinsten Aufgaben braucht sie ewig. Kann sie die Sachen denn alle schon? Ja, fast alles, sie wiederholt und wiederholt und langweilt sich furchtbar. Ich kann sie gut verstehen. Ich würde auch sehr ungern immer wieder die gleichen Dinge machen, die ich schon gelernt habe. Wo ist der Sinn?  Drei bis vier Stunden am Tag quäle ich sie, dass sie doch bitte die Sachen erledigen soll. Immer wieder stupide Wiederholungen.

Ich frage mich, mit welcher Begründung ich ihr später erklären soll, ich hätte es nur zu ihrem Besten gemacht. Ist das das Beste für mein Kind? Das Beste, weil sie nicht von einer Eins auf eine Zwei rutschen soll? Weil in ein paar Jahren beim Vorstellungsgespräch gefragt wird, ob sie auch ja alle Aufgaben erledigt hat? Weil sie sonst abgehängt wird? Was passiert, wenn sie die Aufgaben nicht macht und stattdessen intrinsisch motiviert ihrer Schwester vorliest, beim Kochen hilft oder stundenlang den Bogengang übt?

Um sie herum die Natur, Möglichkeiten sich zu bewegen, die Schwester als Spielkameradin, die Mutter als Unterstützerin für all die wilden und interessanten, lustigen und kreativen Spiele, die sie sich ausdenkt.

Ich bin Handlanger eines Systems, das nicht funktioniert!

Ich spüre, wie diese Aufgaben sich immer mehr zwischen uns schieben. Ich motiviere sie: „Komm, wenn du dich jetzt konzentrierst, dann bist du in zwanzig Minuten durch. Ich weiß, dass du keine Lust hast, ich weiß, dass du das kannst. Ich weiß auch nicht, warum du das machen musst.“ Jeden Tag diese Ansprachen, über Wochen hinweg.

Denn auch ich finde die Sachen stupide und überflüssig. Ich fühle mich gegängelt. Ich muss mein Kind in die Schule schicken, da komme ich nicht raus und dann soll ich mich auch noch zum Handlanger eines Systems machen, was offensichtlich nicht gut funktioniert. Jedenfalls ist mein Kind nicht mit Begeisterung bei der Sache, sie ist das Gegenteil, sehr unglücklich. Sie weint, ich weine. Wir streiten uns, sie schreit mich an, ich versuche ruhig zu bleiben, der Mann im Home Office bittet um Ruhe.

Ich gehe dazu über, ihr zu sagen, dass sie nur das machen muss, was sie machen möchte, ich halte es nicht mehr aus. Sie sagt, das gehe nicht, sie habe Angst, dass sie Ärger bekommt.

Wo ist der Sinn?

Ich spreche mit den Lehrer:innen. Die sind verständnisvoll und rücken keinen Zentimeter davon ab, dass die Aufgaben erledigt werden müssen. Wir könnten das ja etwas an Zoey anpassen, meinen sie. Ich fühle mich schlecht. Trotz ihres sehr guten Durchschnitts. Ich soll mich bei den Lehrer:innen melden, wenn es Probleme gibt. Soll ich jetzt jeden Morgen mit ihnen sprechen und erzählen, dass Zoey keinen Bock hat?

Ich frage nach den Lernzielen und ob sie Sorge haben, dass Zoey das nicht schaffen wird. Nein, nein, das wäre kein Problem. Ja, aber warum soll sie die Sachen machen? „Weil das so in unserem System ist.“ Ok, dem Kind geht es schlecht, der Mutter mittlerweile auch, die Lernziele sind längst erreicht. WO IST DER SINN? Ich kann es nicht verstehen. Zoey noch viel weniger. Sie ist enttäuscht von ihren geliebten Lehrer:innen so behandelt zu werden.

Ich rede mir den Mund fusselig: „Zoey, zieh es einfach durch, du bist doch so intelligent, wenn du dich beeilst, dann bist du viel schneller fertig, als wenn du hier jetzt rummeckerst.“ Immer wieder das gleiche Gelaber, ich kann mich selber bald nicht mehr hören. Ich versuche noch mehr Struktur anzubieten, mit festen Abläufen, scheitere aber immer wieder daran, dass ich die beiden Mädels tief versunken im Spiel nicht stören möchte. Ist Konzentrieren nicht eine Fähigkeit, die unsere Kinder immer weniger können, weil sie dauernd unterbrochen werden?

Nach den Ferien geht der Präsenzunterricht mit Hausaufgaben wieder los

Mittlerweile ist es Sommer und es gibt endlich Ferien, danach die Einschulung der Kleinen. Mir graut es davor, zwei Kinder zu überreden, ihre Sachen zu erledigen.

Die Ferien machen wir uns schön, wir können auftanken. Ich merke aber, trotz Ferien, dass ich kaum noch kann, meine Energiereserven neigen sich, ich brauche unbedingt Zeit für mich, ich bin ein Einzelgänger. Aber wie, in einer Wohnung, wenn alle dauernd zu Hause sind? Wie, wenn ich mich am Vormittag mit den Kindern hinsetzen soll, um ihre Aufgaben zu betreuen?

Zoey hat wieder Schule, sie freut sich sehr ihre Freunde zu sehen. Präsenzunterricht bedeutet aber auch Hausaufgaben, die sie nicht machen möchte. Ich fange an zu recherchieren, ob Hausaufgaben in der Grundschule sinnvoll sind, tausche mich mit einer Coachkollegin auf ihrem Blog dazu aus. Frage in unserer Klasse die anderen Eltern, ob ihre Kinder die Hausaufgaben gerne machen. Ja, es gibt die Kinder, die sich ohne Problem daran setzen. Und es gibt so viele Kinder, die keinen Spaß daran haben. Aber es lernt sich doch eigentlich nur gut, wenn es mit Freude gelernt wird. Die Hausaufgaben sind wohl häufig Grund für Streitereien. Vor allem die Mütter, die abends von der Arbeit kommen, würden sich gerne mit ihren Kindern anders beschäftigen, müssen aber erst noch die Hausaufgaben mit den Kindern erledigen.

Strafe für fehlerhafte Hausaufgaben? Im Ernst?

Dann wird eine neue Regel eingeführt. Wenn die Kinder mehr als vier Fehler auf einem Zettel in ihren Hausaufgaben machen, dann müssen sie den kompletten Zettel in einer Atelierstunde  (je nach Bedarf Musik/Theater/Kunst/Sport) nacharbeiten. Sie werden also klassisch für Fehler bestraft. Ich bin fassungslos. Bestrafen gehört nicht zu meinem pädagogischen Repertoire. Ich spreche die Lehrer:innen darauf an. Sie winden sich raus. Die Direktorin der Schule beobachtet Zoey sogar im Unterricht, es gibt eine außerordentliche Konferenz. Schriftlich wird mir bestätigt, dass Zoey ein glückliches Kind sei und engagiert am Unterricht teilnähme. Kein Wort von Hausaufgaben und Bestrafung.

Ich freue mich über den Einsatz der Direktorin, verstehe aber nicht, wieso Zoey im Unterricht beobachtet wird, wenn es doch um Bestrafungen von Fehlern in den Hausaufgaben geht. In dem Zuge, finde ich plötzlich Fehler in den Arbeitszetteln der Lehrer:innen und spüre, wie ich jedes Mal völlig irrational ausflippen könnte ob dieser Bigotterie. Ich hatte lange geglaubt, dass die Defizitorientierung in deutschen Schulen der Vergangenheit angehört, aber da habe ich mich gewaltig getäuscht.

Oder möchte die Lehrerin die Eltern erziehen, dass diese die Hausaufgaben so kontrollieren, dass die Lehrerin weniger Arbeit hat? Ich frage nach dem pädagogischen Sinn und den Lernzielen von solch Bestrafungen. Keiner hat eine Antwort für mich. Weder die Deutschlehrerin, noch die Klassenlehrer noch die Direktorin. Menschen vom Fach, die mir erklären sollten, wieso mein Kind jetzt zusätzlich zu Langeweile auch noch Angst mit Hausaufgaben verknüpft.

Zoey sitzt zwischen den Stühlen

Meine Coachkollegin weist mich darauf hin, dass Zoey bestimmt große Schwierigkeiten hat, nicht zu wissen, wem sie folgen soll. Sie liebt mich und ihre Lehrer:innen und spürt natürlich, dass ich anderer Meinung bin. Das bringt sie in einen Loyalitätskonflikt. Sie steckt zwischen den Beziehungen fest. Welche Beziehung ist belastbarer und wie lange und zu welchem Preis?

 Zoey und ich sprechen darüber. Ich frage mich immer wieder, was gut daran ist, mein Kind zu zwingen, etwas zu erledigen, wobei doch hinlänglich wissenschaftlich bewiesen ist, dass Interesse und Spaß der Motor für nachhaltiges Lernen sind.

Ich will Zoey helfen, und auch die Lehrer:innen wollen sie unterstützen, das weiß ich. Aber sie stecken in dem System, was nicht zulässt Kindern zu vertrauen und als Subjekt zu sehen. Die Lehrer:innen würden ihr Studium, ihre Karriere und ihre eigenen Überzeugungen verraten, wenn sie Zoey und mir vertrauen würden. Ich fühle mich machtlos in einem System, was das Beste für mein Kind will.

Was ist den Lehrer:innen so wichtig daran, dass die Sachen wiederholt werden? So wichtig, dass sie sich noch nicht einmal auf ein Experiment mit Zoey einlassen? Wir hätten es ja durchaus ein Quartal ohne Hausaufgaben probieren können, auf die Gefahr hin, dass Zoey sich verschlechtert, auf die Gefahr hin, dass sie glücklich sein könnte. Über eine Bekannte aus der Behörde höre ich, dass unsere Grundschule sehr konservativ sei und sie es nicht wundere, dass sich da nichts bewegt. Ich gehe dazu über, Teile der Hausaufgaben für sie zu erledigen, das geht schneller und wir streiten uns dann wenigstens nicht so viel. Auch für mich fühlt es sich wie verschwendete Lebenszeit an.

Der Druck wird im Distanzunterricht weiter aufrechterhalten

Die Weihnachtsferien sind wieder schön, Zoey entspannt sich deutlich, wir streiten uns viel weniger. Wir schreiben Hoffnungsbriefe an Menschen in Pflegeheimen, die selber keine Familie haben. Zoey fragt nach der korrekten Schreibweise mancher Wörter.

Nach den Ferien beginnt der Distanzunterricht wieder und unsere Streits fangen wieder an. Ich fühle mich sofort wieder ausgelaugt und energielos. Mein Vater bietet an, mit den Kindern Schule zu machen. Langsam habe ich das Gefühl, das zieht alles viel zu große Kreise. Raubt viel zu viel Raum in unserem Leben. Ich denke an die Menschen, die nicht unter diesen luxuriösen Umständen leben, was machen die, wenn sie sogar noch arbeiten müssen, vielleicht beengt leben und finanzielle Sorgen, sogar Existenzängste haben?

Dann kommt der Brief der Behörde, dass die Aufgaben im Distanzunterricht gemacht werden müssen. Müssen, steht da so. Ich kann es wieder nicht fassen. Ja und was wenn nicht, kommt dann die Polizei und die Kinder kommen ins Heim? Wieso wird von Seiten der Behörde noch mehr Druck auf die Eltern ausgeübt? Das hilft niemandem und schadet all denjenigen, die am wenigsten dafür können. Ich frage die Behörde, welche Konsequenz denn nicht gemachte Aufgaben hätten. Nur die Antwort, ich solle die jeweilige Schule fragen. Ich bin mal wieder stinksauer.

Wie weit darf Schule unser Leben beeinflussen und bestimmen?

Und dann das Elterngespräch kurz vor den Ferien. Mit Zoeys Leistungen steht alles zum Besten, nur Rechtschreibung ist nicht tipptopp. Aber es gibt etwas, worüber sie sich Sorgen machen würden, das hätten sie sich extra zum Schluss aufgehoben, damit wir noch etwas länger Zeit haben darüber zu sprechen. Zoey wäre in letzter Zeit so unglücklich und wütend und würde ein Mädchen hassen. Ob wir das nicht mal mit einem Arzt besprechen wollen würden?

Als sie das sagen, hole ich meine imaginäre Geißel raus und ärgere mich wahnsinnig darüber, dass ich Zoey nicht habe krankschreiben lassen, schon am Anfang der Pandemie, bevor wir unsere Schützengräben ausgehoben haben, vor den ganzen Tränen und Streitereien, vor der ganzen Wut und Meckerei, die ja auch noch andere Familienmitglieder betrifft. Wieso habe ich das mit uns machen lassen? Wieso habe ich sie nicht beschützt? Wieso durften alle diese schlechten Gefühle unsere Familie belasten? Wie weit darf Schule unser Leben beeinflussen und bestimmen? Bezahlen wir mit unseren Steuergeldern ein System, was nicht gut funktioniert (PISA) und stellen dann fest, dass die Kinder gar nicht so da reinpassen und sie zum Arzt müssen, damit sie dort ins System gebogen werden?

Präsenzunterricht, Stress, belastete Mutter-Tochter-Beziehung

Nun hat die Schule wieder angefangen. Ich freue mich, die Kinder nicht. Für Zoey ist es ein notwendiges Übel, die Kleine übernimmt ihre Meinung. Jetzt haben wir jeden Morgen vor der Schule Stress. Erst wird sich untereinander gestritten, dann erhebe ich mahnend meine Stimme, dass nur noch wenig Zeit sei, daraufhin werde ich angemeckert. Die Kinder sind kein einziges Mal pünktlich zur Schule gekommen, seit drei Wochen. Daran merke ich ihren inneren Widerstand, das war vor Corona nie so.

Sowieso ist Zoeys und meine Beziehung nachhaltig gestört. Jedes, wirklich jedes Mal, wenn ich ihr mit etwas deutlicheren Worten etwas sagen möchte, fängt sie an zu quietschen, hält sich die Ohren zu und dreht sich weg. Wir agieren nicht mehr natürlich miteinander. Wir streiten und weinen viel.

Und gibt ist eine Lösung? Wohnmobil kaufen, Kinder einpacken und um die Welt fahren?  Oder nach Frankreich auswandern und zu Hause beschulen? Die Schule wechseln? Das klingt realistisch. Waldorf vielleicht? Mit den Lehrer:innen zu sprechen, funktioniert bei uns zumindest nicht.

Ein Jahr Schule und Corona - Bildungsverlierer oder Beziehungsverlierer?

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