LehrerInnen in Angst, SchülerInnen unter Druck

LehrerInnen in Angst und unter Druck

Die Angst geht um in deutschen Lehrer-Arbeitszimmern. Es ist die Angst, zu scheitern und einen schlechten Job zu machen. Die Angst, machtlos zu sein, die Kontrolle zu verlieren. Die Angst vor Veränderung.

Ausdruck davon ist der verzweifelte Versuch, Unterricht in diesen Wochen aufrecht zu erhalten. Da werden Arbeitsblätter mit Abgabefristen, Wochenpläne und Lösungen erstellt. Kinder und Jugendliche machen das dann eben einfach selbstständig! Auf dem Kommunikationsweg, der individuell am besten funktioniert, werden dann die Aufgaben an die SchülerInnen bzw. deren Eltern geschickt. Alle sollen im gleichen Tempo das Gleiche bearbeiten. Wie gesagt: Alles wie immer. Bloß nichts schleifen lassen und den Druck aufrecht erhalten.

Nur ist es eben nicht wie immer. Alle Schülerinnen sind nun auf sich und eventuell helfende Familie zurückgeworfen. Es herrscht Kontaktsperre, keine Freunde, kein Spielplatz. Bei Glück einen Garten. Kein Schulraum mehr, wo wir einen gemeinsamen Kontext schaffen können. Unser Einfluss scheint gerade ziemlich klein, dafür ist der Materialberg umso größer.

Meine erste Reaktion war unfair

Anfangs habe ich mich über solche KollegInnen geärgert, die manche Situationen von SchülerInnen aktiv zu ignorieren scheinen und nach Abgabefrist eingereichte (offiziell FREIWILLIGE) Aufgaben nicht akzeptieren. Oder die ihnen mitteilen, dass sie sich bitte erst untereinander Fragen beantworten sollen, bevor sie 30 E-Mails mit der gleichen Antwort rausschicken müssen. Naja, dachte ich, ist halt auch unser Job?! Dann überlege dir eben einen Weg, wie du weniger Emails schicken musst…

Aber meine erste Reaktion war unfair – Kein Lehrer und keine Lehrerin macht das bewusst, um Kinder und ihre Familien zu ärgern. Es ist eben das Altbekannte: Autorität, die sich auf ihre Rolle, deren institutionelle Macht und Kontrolle beruft. Auch das Unwissen darüber, wie es anders gehen kann, weil das System eben schon immer so war. Wenn du hier länger mit liest, wirst du wissen: Es geht darum, unsere Macht für die Kinder einzusetzen, nicht gegen sie.

LehrerInnen in Angst – SchülerInnen in Angst

Vor allem aber ist es der blinde Fleck für die eigenen Ängste. Ein immer noch geltender Standpunkt ist: ‚Gerade LehrerInnen dürfen keine Angst haben, das würden Kinder und Eltern sofort ausnutzen.‘ Also ist das kein Teil der Ausbildung. Wer sich nicht aktiv selbst mit seiner persönlichen Weiterentwicklung befasst, kommt also drumherum. Und das in einem Beruf, in dem wir unsere Ängste unbewusst direkt an junge Menschen weitergeben können.

Die Angst ist längst angekommen. Selbst wenn Eltern entspannt sind, sitzen viele Kinder gerade verbissen über ihren Aufgaben. Sie wollen die Anforderungen erfüllen, nicht abgehängt werden. Schließlich hat Herr X. gesagt, dass er einen Test darüber schreibt. Auch Frau Y. hat das angekündigt. Dass es sich – hier in NRW – zumindest um freiwillige Aufgaben handelt, wird mancherorts einfach verleugnet. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie eng es für manche wird, weil sie ihre Lehrer nicht erreichen, niemanden fragen können und selbst nicht wissen, wie es geht.

Autorität greift nicht mehr

Jetzt wird deutlich, dass die traditionelle Autorität nicht mehr besteht. Das tut sie natürlich schon länger nicht mehr, nur konnten Schulen das bisher in ihren eigenen Mauern ganz gut verschleiern. Nein, Moment. Offenkundig ist auch das schon lange. Bisher waren eben die Kinder das Problem. Unkonzentriert, faul, frech…super Begründungen, nicht über die eigene Haltung nachzudenken.

Dazu kommt, dass wir Lehrkräfte auch nicht wissen, wie lange das so weitergeht, wie wir mit den Aufgaben später verfahren sollen, wie wir die Kinder wieder zusammenholen in unserer Klasse. Am einfachsten erscheint dann, dass wir erstmal weitermachen. Dann ändert sich auch vorerst nichts. Von mancher Schulleitung wird auch nochmal an die Qualität der Aufgaben erinnert.

Spannend, oder? Angesichts einer solchen Ausnahmesituation auf den status quo zu pochen, kann doch nur mit Angst zusammenhängen. Und ich meine nicht die Angst um die Kinder und ihr Wohlergehen…es ist die eigene Angst der LehrerInnen. Es geht vielen gerade letztlich um sich selbst:

Eigene Ängste und Misstrauen wirken

Werde ich den Lehrplan einhalten? Werden die Ergebnisse von eventuell stattfindenden zentralen Prüfungen meine Schulleitung zufrieden stellen? Komme ich meiner Beurteilungsfunktion nach und fordere Ergebnisse ausreichend ein? Wie schneide ich im Vergleich zu meinen KollegInnen ab, bin ich zu lasch? Bin ich produktiv genug, damit bloß keiner denkt, die Lehrer hätten jetzt alle frei? Zumal ich mein Gehalt weiter gezahlt bekomme, während Andere gerade nicht wissen, wie sie ihre Miete zahlen sollen? Muss ich jetzt dieses digitale Zeug auch nach der Schulschließung anwenden und all meine bisherigen Unterrichtsplanungen über Bord werfen?

Außerdem spielt Misstrauen eine Rolle. Was wäre, wenn wir z.B. keine Abgabefristen vorgeben? Oder gar mit offenen Karten spielen: „Die Aufgaben sind freiwillig und ich benote sie nicht.“ Würden die Kinder dann gar nichts machen? Ja, für manche SchülerInnen mögen Fristen wirklich eine Hilfe sein. Nur sind diese angesichts der fehlenden Absprache für Viele nicht einzuhalten. In der Schule tragen wir uns in Klassenarbeits-Pläne ein: Mathe diese Woche, nächste Woche Englisch, nach den Ferien Deutsch. Sowas gibt es jedoch aktuell in den meisten Fällen, insbesondere in den weiterführenden Schulen, nicht.

Ferien und Pause sind nötig

Es gibt auch nicht wenige LehrerInnen, die Materialpakete für die Ferien schicken. So als ob es diese nicht gäbe, weil die Kids sich ja sicher genug ausruhen konnten in den letzten Wochen. Das ist schlichtweg nicht erlaubt und mich ärgert einfach, dass von den SchülerInnen erwartet wird, jetzt keine Pause zu machen. (Ich glaube nicht, dass nun plötzlich Aufgaben als freiwillig deklariert werden.) Nur weil wir Erwachsene im Hamsterrad sind, müssen wir die Anderen nicht mitschleifen. Gerade jetzt ist eine Lernpause wichtig (zum Thema ‚Pause‘ in meinem anderen Artikel mehr).

Für manche Familien mag es sinnvoll sein, in den Ferien weiterhin eine feste Zeit am Tag für die Schule einzuplanen, weil sie durch Kontaktsperre nicht raus oder auf den Spielplatz können und einfach eine Struktur brauchen. Dafür empfehle ich aber spielerische Übungen, bei denen Kinder und Eltern gemeinsam Zeit verbringen. Einige Ideen habe ich im letzten Artikel zu den gehirn-gerechten Übungen gesammelt.

Sieg der Selbstständigkeit?

Wie können wir glauben, dass junge Menschen die gleichen erwarteten Ergebnisse produzieren, obwohl den Allermeisten eigentlich der Rahmen dafür fehlt? Wenn sie das könnten, dann bräuchten wir die Schulen doch gar nicht mehr zu öffnen!

Man stelle sich vor, dass das wirklich funktioniert. Alle treffen sich nach Ostern oder Pfingsten wieder, die Aufgaben sind bearbeitet, keine Fragen, super, wir machen weiter. Wäre das ein Sieg der Schule, weil wir selbstständiges Lernen ermöglicht haben? Dass wir den Kindern das so gut beigebracht haben, dass sie sogar die Streitereien der Eltern im Hintergrund und den Fernseher der kleinen Geschwister ausblenden können? Dass es ihnen nicht auffällt, dass sie womöglich schon länger nichts Warmes gegessen haben?

Es ist die Beziehung, die Lernen ermöglicht

Und das schlimmste Szenario: Wenn die Kinder tatsächlich die Aufgaben nicht bearbeiten, was dann??? Hier zeigt sich, dass wir endlich umdenken und unsere Haltung ändern müssen. Lernen funktioniert nicht über Arbeits- und Lösungsblätter. Es ist die Beziehung zwischen uns, die das Lernen ermöglicht. Sie ist es auch, die Lernen verunmöglicht. Das sehen wir ja gerade in den gestressten Familien, in denen der Haussegen schief hängt. Dann geht gar nichts mehr.

Bei Margret Rasfeld und Stephan Breidenbach las ich gestern passend dazu: „Die traditionelle Autorität (…) wird abgelöst. Die neue Autorität gründet auf Präsenz, Anerkennung, Respekt und fokussiert auf Verbundenheit und Potenzialentfaltung. Erwachsene wirken durch Authentizität, haben Vorbildfunktion, sind Anker, geben Wurzeln und Flügel. Das ist ein Haltungswandel.“ (Rasfeld / Breidenbach: Schulen im Aufbruch, 4. Aufl. 2019, S. 62). Außerdem gehöre es dazu, „sich mutig auf ergebnisoffene Settings einzulassen“ (ebd. S. 63). Wenn das gerade kein ergebnisoffenes Setting ist, dann weiß ich auch nicht.

Schule ist Beziehung

Wir können diese Zeit endlich nutzen, um auch für unsere Schulen zu erkennen: Unser Miteinander ist das, was alles trägt. Es ist das Gegenüber, seine Sprache, seine Gestik, seine Mimik, seine Reaktion auf meine Worte und mein Handeln, sein Interesse an meiner Sicht, das etwas in mir auslöst. Ein persönlicher Bezug zum Thema, der sinnstiftend ist. Gemeinsam lachen. MitschülerInnen, Freunde, Zusammenhalt. Nicht das Arbeitsblatt, auch wenn es bunt gedruckt ist. (Zur Beziehung gibt’s auch beim Instagram-Account @liniert.kariert schöne Inspiration.)

Es ist übrigens auch nicht das Arbeitsblatt, das ich mir von einer digitalen Lernplattform herunterlade. Digitalisierung schön und gut. Sie würde tatsächlich mehr Struktur ermöglichen, sofern alle Familien Internet haben. Aber auch hier gilt: Wenn wir weitermachen wie immer und die digitalen Möglichkeiten unserem bisherigen Vorgehen unterordnen, ändert sich gar nichts. Nur wenn wir digital in den Austausch kommen, haben wir wirklich eine Chance, Unterricht weiterzuentwickeln. An dieser Stelle verweise ich gerne auf Nina Toller und ihren Blog zum digitalen Unterricht.

Von großartigen KollegInnen

Apropos neue Autorität. Ich weiß von vielen KollegInnen, die sich gerade ein Bein ausreißen für ihre SchülerInnen. Sie überlegen, wie sie trotzdem zusammen kommen und sich austauschen können. Sie fuchsen sich in das Thema ‚Videokonferenzen‘ ein und finden sich plötzlich mit Headset vor dem PC wieder, im Online-Austausch mit Anderen. Fast wie Jugendliche, die gerne online zocken ;).

Manche erstellen wunderbare Erklärvideos, weil sie nicht einfach auf YouTube verweisen wollen. Gerade in einem Fach wie Mathe verwirren solche YouTube-Videos auch manchmal nur. Wieder Andere rufen regelmäßig bei ihren Schützlingen an und versuchen, individuell auf sie einzugehen. Es werden Briefe an die eigene Klasse geschrieben, in denen es darum geht, eine Beziehung aufrechtzuerhalten und Mut zu machen.

Danke euch! Ich finde nicht, dass das alle tun müssen. Vielen Kindern und Jugendlichen ist bereits geholfen, wenn LehrerInnen diese Zeit für sich nutzen. Wieso bin ich LehrerIn? Was ist meine Absicht? (Dazu gibt es hier einen weiteren Artikel von mir.) Was ist momentan meine größte Angst, die mich rastlos sein lässt? Was inspiriert mich?

Vertrauen und Loslassen

Zwei Qualitäten haben mir in den letzten Wochen geholfen. Die erste ist Vertrauen: Vertrauen in die SchülerInnen, dass sie ihr Bestes geben unter den individuellen Bedingungen. Ebenso Vertrauen in die Eltern, dass sie ihr Bestes geben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Schließlich Vertrauen in mich, dass ich genug tue. Ja, es wäre mehr gegangen. Ich bin aber auch Mutter von zwei Kleinkindern und schwanger. Da gibt es natürliche Grenzen 😉 Mich abzugrenzen, ist meine Hauptaufgabe.

Es hat nämlich mit der zweiten Qualität zu tun: Loslassen. Ich kann die Situation nicht mit Druck herbei kontrollieren. Daher lasse ich meine Ansprüche los und freue mich über jede Rückmeldung meiner Schul-Kinder. Ich vermisse sie nämlich sehr.

Um im Titelbild zu bleiben: Wollen wir verstrickt bleiben mit dem Alten? Oder sagen wir „Leinen los!“ und reflektieren uns, unsere Haltung, unsere Lernkultur, damit Schule zu einem lebenswerten Ort für Alle werden kann?

Deine Ann-Marie

Das zitierte Buch verlinke ich hier noch einmal als Affiliate Link*: Margret Rasfeld und Stephan Breidenbach: Schulen im Aufbruch. Eine Anstiftung. Kösel Verlag, 4. Aufl. 2019

LehrerInnen in Angst, SchülerInnen unter Druck

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