Ein Kind ruft einem anderen Kind quer durch die Klasse zu: „Halt die Fresse, du Fotze!“
Während ich mich zur Tafel drehe, steht ein Kind auf und tritt dem Nachbarn in den Rücken.
In jeder Stunde des Matheunterrichts zerschneidet ein Kind das aktuelle Arbeitsblatt und klebt die Überreste auf ein anderes Papier. Danach schneidet es sich die Haare.
Kurz nach Pausenbeginn sehe ich ein paar Kinder im Flur, der eigentlich leer sein sollte. Ich bitte sie, auf den Schulhof zu gehen. Als Antwort bekomme ich Sätze wie: „Boah, wieso müssen Sie auch hier langlaufen?“
Seit Wochen fehlt ein Kind immer wieder in der Schule. Wenn es doch dort ist, fällt es durch vermehrte Müdigkeit und weniger Mitarbeit auf.
Lehrer:innen sind nicht Experten für Alles
Ich nehme direkt vorweg: ‚Problemkinder‘ gibt es in meinen Augen nicht. Ja, es gibt Kinder, die Probleme haben. Kinder, deren Verhalten uns nicht gefällt, weil es ihnen selbst oder anderen schaden kann. Selbst das ist eine Interpretation unsererseits! Und gleichzeitig sind Kinder nicht Ursache eines Problems. Wenn wir das in unserem Umgang verinnerlichen, kommen wir auf ganz andere Lösungsideen. Wir nehmen also längst nicht jedes Verhalten hin oder tun so, als hätten wir den Tritt in den Rücken oder den Spruch quer durch die Klasse nicht mitgekriegt. Im Gegenteil, wir sprechen das an, weil wir ja von einer Lösung ausgehen. [Und weil es bei körperlicher, seelischer und verbaler Gewalt geboten ist, dies nicht stehen zu lassen.]
Eine Haltung, die wir uns von vielen Sonderpädagog:innen abgucken können. Denn solange wir glauben, wir seien Fachlehrer:innen, die für die Vermittlung des jeweiligen Themengebiets zuständig sind, erscheint uns jedes Kind, das spezielle Bedürfnisse hat, als Störfaktor bei eben diesem Unterfangen. Ich meine damit nicht, dass Lehrer:innen Experten für alles sind und Probleme alleine stemmen sollen. Das führt auf Dauer nur dazu, dass genau diejenigen ausbrennen, die ihre Schützlinge nicht fallen lassen wollen. Wenn wir jedoch unterschiedliche Perspektiven für eine Problemlösung überhaupt erst zulassen, können wir mit Sonder- und Sozialpädagog:innen fruchtbarer zusammenarbeiten. Dafür wäre es natürlich günstig, wenn Lehrer:innen auch direkte Ansprechpartner haben – allein an meiner Schule wären z.B. weitere Sonderpädagog:innen vonnöten.
Ab wann besteht ein Problem?
Dann gibt es noch den Fall, dass manche Erwachsene ein Problem erkennen wollen, wo andere keins sehen. Dann wird ein Kind, das eigentlich kein Problem hat, zu einem mit Problem: Das Grundschulkind, das sich in der ersten Klasse nicht lange auf einen Stuhl setzt und wieder aufsteht, ist dann schon ein Dorn im Auge, weil es „das nicht schafft“. Dabei entspricht – besonders in dieser Altersklasse – das Drücken der Schulbank so gar nicht den Bedürfnissen der Kinder…aber das ist ein anderes Thema 😉 Daran wird deutlich: Für wen ist es ein Problem? Und was ist daran problematisch im Hinblick worauf?
Ob mit oder ohne Inklusion: Wir machen uns selbst mit dieser Denkweise Probleme. Denn alle Kinder sind irgendwie speziell – in welcher Hinsicht auch immer. An meiner Schule sind einige Kinder unterwegs, die keinen offiziellen Förderstatus haben, aber im normalen Schulmodus durch das Raster fallen. Vermutlich sind diese Kinder die größten Verlierer im bisherigen Schulsystem: Sie brauchen offenbar Unterstützung, bekommen aber kaum welche, weil die Pädagog:innen sich nicht dreifach teilen können. Das liegt aber nicht an den Kindern selbst, sondern an der Umgebung, die Erwachsene ihnen in der Schule schaffen. Dazu gibt es hier einen interessanten Artikel aus der Schweiz.
Störfaktor ‚Problemkinder‘
‚Problemkinder‘ stören im System. Also müssen sich die Kinder ändern, bevor sich die Umgebung ändert. Solange wir glauben, wir könnten uns dieses Denken leisten im Umgang mit ihnen, solange wird sich Schule auch nicht ändern. Völlig egal, ob digital oder analog, MINT oder musisch, Neubau oder sanierungsbedürftiger Altbau: Äußere Konzepte sagen nichts darüber aus, ob wir tatsächlich an der Weiterentwicklung von Kindern interessiert sind oder lieber Traditionen beibehalten wollen.
Problemkinder-Denken lässt Lehrer:innen wie Eltern weniger geduldig sein, eher voreingenommen und vielleicht auch unfreundlicher im Umgang mit ihnen. Die Kinder müssen dann liefern, und zwar den Gegenbeweis, dass sie doch keine Problemkinder sind. Das heißt, nicht wir müssen darauf achten, was wir tun können, sondern die Kinder sind am Zug. Doch wie soll das gehen? In diesem Denken ist es den Kindern gar nicht möglich, dauerhaft ein anderes Verhalten oder eine andere Einstellung an den Tag zu legen. Denn wenn sie das machen, kommt das Misstrauen der ‚Problemerwachsenen‘ um die Ecke und sagt: „Na, führt da nicht jemand etwas im Schilde? Mal sehen, wie lange das gut geht!!“
Vielleicht klingt das übertrieben? Dann kannst du für dich selbst überlegen: Bis wohin gehst du mit? Und ab wann denkst du doch: „Dieses Kind IST einfach faul, furchtbar, undankbar, asozial…und wird es bleiben!“
Symptomträger, nicht die Ursache
Kinder mit Problemen sind im Gegensatz zu Problemkindern nicht die Ursache, sondern Symptomträger. Das ist eigentlich der wichtigste Unterschied dazwischen. Wenn die Ursache woanders liegt, als im Kind selbst, müssen wir diese herausfinden. Dann sind wir mit einem Verhalten immer noch nicht einverstanden, aber wir stempeln unser Gegenüber nicht ab. Wir können dann wieder unseren Job machen und – im besten Fall – mit dem Kind bzw. für das Kind Initiative ergreifen.
Es geht mir nicht darum, die Welt zu retten. Natürlich gibt es immer auch Fälle, wo eine Ursachenforschung oder –behebung nicht klappt. Wir können aber annehmen, dass ein Kind sich später daran erinnern wird, ob Erwachsene es persönlich abgeschrieben haben oder sich trotz der Umstände eingesetzt haben.
Manchmal reicht schon interessiertes Nachfragen, um einen Stein ins Rollen zu bringen: „Mir ist aufgefallen, dass du seit ein paar Wochen öfter fehlst: Woran liegt das? Wie geht es dir?“ (Anstatt: „Du weißt aber schon, dass wir nächste Woche die Arbeit schreiben?“) Oder: „Deine Vokabeltests sind in letzter Zeit durchweg 5. Klappt das Vokabellernen nicht? Wieso?“ (Anstatt: „So geht das nicht! So wird das nichts mit deiner Spanischnote!“)
Ein guter Hinweis ist also für mich, ob ich Fragen stelle oder nicht. Sobald ich in Monologe verfalle, bin ich nicht an einer Lösung interessiert. Ich bekomme das immer öfter mit und kann dann neu wählen: Zum Glück für mich und mein Gegenüber!
Die gelbe Tür wählen
Was lässt uns eigentlich so schnell in die ‚Problemkind‘-Schublade greifen? Oder die Tür öffnen, auf der ‚Umgang mit Problemkindern‘ steht? Wieso nehmen wir nicht die Tür ‚Umgang mit Kindern, die Probleme haben‘, wie die gelbe im Bild oben? Ein Motiv klang oben schon an: Es ist im hektischen, chaotischen, herausfordernden (Schul-)Alltag leichter, weil wir dann unsere Ressourcen (scheinbar) woanders einsetzen können. Da wir ‚Problemkinder‘ schließlich nicht retten können, lassen wir es lieber gleich. So wollen wir uns vor Überforderung schützen.
Doch das ist ein Trugschluss. Jedes Mal, wenn ich nicht hingesehen habe und mich im Recht, ein Kind als Schuldigen betrachtet habe, hat sich die Situation verschärft. Es ist so noch nie besser geworden. Spätestens kurz vor jeder erneuten Unterrichtsstunde mit dem Kind oder der Klasse holt(e) mich der Konflikt wieder ein. Dann denke ich an mich und meinen Akku: Der wird ganz schnell leer, wenn ich das weiterführe. Also gehe ich – auch aus egoistischen Gründen – doch noch durch die gelbe Tür.
Intensiv lerne ich das mit meinen eigenen Kindern. Sie sind noch klein, daher stehe ich wohl erst am Anfang. Da haben Leser:innen mit älteren Kindern vielleicht mehr Erfahrung. Aber unabhängig vom Alter der Kinder ist es unsere Wahl, ob wir die gelbe Tür nehmen oder eben nicht. An anderer Stelle habe ich über unsere Sicht auf Jugendliche geschrieben: Im Grunde dasselbe Phänomen!
Was brauchst du, damit du Kinder nicht als ‚Problemkinder‘ siehst und den Blick auf die Lösung richten kannst?
Pinne dir den Artikel bei Pinterest: