Bei ZEIT-ONLINE erschien vor Kurzem der Artikel Lästerpäuschen im Lehrerzimmer. Dies ist mein Kommentar dazu, denn mir ist wichtig, dass wir unsere ’normale‘ Haltung zu Jugendlichen überdenken!
Die Lehrerin Frau Schmidt unterrichtet Ethik in einer 8. Klasse zum Thema Konfliktlösung und lästert danach im Lehrerzimmer über die Jugendlichen: „Die Hälfte der Klasse ist so hohl.“ Die Autorin sieht dieses Frust-Ablassen als eine Art Burnout-Prävention.
Genau! Denn wenn unsere Schüler:innen nicht so hohl wären, würden Lehrer:innen auch kein Burnout kriegen! Das Spannende daran ist, dass einige Leser:innen dem zustimmen, zumindest was die kommentierenden angeht. Wenn ein solches Denken über Jugendliche normal ist, wird es oft nicht mehr hinterfragt.
Problematisch ist es aber für das eigene Lehrerleben, weil die Lehrerin und ihre Kolleginnen in der Pause offenbar ziemlich unzufrieden sind. Und für die furchtbaren Achtklässler ist der Zug wohl leider eh schon abgefahren.
„Da muss man immer voll viel über Gefühle reden. Und sagen, was richtig und falsch ist.“
Offenkundig ist, dass die scheinheilige Doppelmoral nicht funktioniert. Jugendliche sollen Konflikte methodisch lösen, Erwachsene müssen sich aber nicht an den Moral-Codex halten. Und weil die Jugendlichen eben NICHT hohl sind, spielen sie das Spiel auch nicht mit. Der Widerstand ist – wie so oft – hausgemacht.
Ein Schüler bringt diese Form von Ethik-Unterricht auf den Punkt: „Da muss man immer voll viel über Gefühle reden. Und sagen, was richtig und falsch ist.“ Diese Ehrlichkeit schätze ich an Jugendlichen sehr. Mir fallen dazu mehrere Aspekte ein:
1. Wer über Gefühle reden muss, hat schon mal allein deshalb keine Lust mehr dazu. Das ist in Beziehungen zwischen Erwachsenen auch so. Zumal es Männern nochmal schwerer fällt, als Frauen. (Nicht, weil sie womöglich hohl sind, sondern weil sie anders sind als Frauen.)
Jugendliche erreichen
2. Bei richtig und falsch liegt der Hase im Pfeffer! Diese moralische Unterscheidung ist doch gar nicht an den Schüler:innen dran. Natürlich weiß Maik, wie er theoretisch ‚richtig‘ damit umgeht, wenn ihm sein Freund die Spielkonsole zerdeppert. Es geht doch um Empathie bei dem Thema.
Wieso sagt die Lehrerin dann nicht: „Das fänd ich auch ziemlich scheiße…“ (ok, wem das Wort zu pubertär ist, kann es ersetzen), „wenn mir jemand etwas kaputt macht. Da wäre ich auch sauer.“ Jugendliche müssen merken, dass wir wirklich an ihnen interessiert sind. Theoretisch etwas über Gefühle zu lernen ist wie ein Buch übers Tanzen zu lesen – die Praxis läuft nicht unbedingt besser.
Und wieso ist es eigentlich moralisch richtig, einen Konflikt höflich auszutragen, aber hinter dem Rücken der Person über sie zu lästern? In Italien würden sie sich wahrscheinlich köstlich amüsieren über die tolle deutsche Konfliktkultur. Es geht mir darum, dass Wut und Trauer in der direkten Auseinandersetzung miteinander überhaupt zugelassen sind. Dann erst geht’s darum, wie wir eine Gefühlskultur entwickeln können: Wieso bin ich eigentlich wütend? Was genau passt mir gerade nicht?
Das Angstwort ‚Pubertät‘
Dazu kommt, dass Jugendliche hier per se nicht ernst genommen werden, weil sie in der Pubertät sind. Beim Wort ‚Pubertät‘ stellen sich vielen Erwachsenen schon die Nackenhaare auf. Fakt ist, dass 14-Jährige aufgrund ihrer Entwicklung andere Interessen haben als lineare Gleichungen oder Textstruktur.
Jetzt ist es leicht zu sagen: Die Schüler:innen sind das Problem, sie müssen sich eben anpassen und zusammenreißen. Das System hält genug Möglichkeiten für Lehrkräfte bereit, die Jugendlichen klein zu halten. Und das lassen sie sich nicht bieten. Sie zeigen uns, was ihnen an Schule nicht gefällt. Das ist der unbequeme Unterschied zur Autonomiephase bei Kleinkindern, wo Erwachsene noch mehr Macht ausüben können, wenn diese ‚trotzig‘ sind (Jesper Juul äußert sich hier zu Trotzphase und Pubertät).
Angebote machen, die für Jugendliche passen
Und wenn wir längst wissen, dass herkömmlicher Unterricht für Menschen in der Pubertät eigentlich sinnlos ist, wieso halten wir so stur daran fest?
Für alle einfacher wäre es, den Jugendlichen Angebote zu machen, bei denen sie gerne lernen, wie z.B. an der Montessori-Oberschule in Potsdam. Dort ist u.a. für diese Jahrgangsstufe ein Großteil der Schulzeit außerhalb des Gebäudes in der Jugendschule am Schlänitzsee vorgesehen.
Hier ist wahrscheinlich der erste Einwand: Wie soll man das überall umsetzen? Wie aufwendig! Ja, wenn man keine neuen Wege gehen will, ist das so. Und wenn man die Jugendlichen wirklich ernst nimmt, ist es machbar. Dort lernen die Jugendlichen in der Gemeinschaft, beim praktischen Tun und nehmen die Theorie dazu, sie sie für die Praxis direkt gebrauchen können.
Welche Schritte zu einer neuen, beziehungsstarken Lernkultur führen, habe ich in diesem Blogartikel detailliert festgehalten.
Manche Arbeitsstrukturen machen es leicht, frustriert zu sein; der einfachste Weg ist, diesen Frust auf das schwächste Glied in der Kette abzuladen, wenn man mit vielen Herausforderungen allein klar kommen soll. Wenn viele Lehrer:innen ehrlich wären, würden sie sich andere Lernformate wünschen, bei denen es ihnen selbst und den Lernenden besser geht.
Aber „es war halt schon immer so“ und für Veränderungen braucht man Pioniergeist, Mut, Hartnäckigkeit, Begeisterung und eine starke Absicht. Das will und muss nicht jeder machen. Aber es ist die Verantwortung aller Lehrer:innen, die Lernumgebung irgendwie für die Schüler:innen zu gestalten. Sie dann dafür zu beschuldigen, dass sie lieber den Arm des Nachbarn anmalen als mitzumachen, ist herablassend, abwertend und unprofessionell.
Selbsterfüllende Prophezeiung
Der im Artikel beschriebene Zusammenhang ist nichts anderes als ein Spezialfall des Rosenthal-Effekts. Die negativen Erwartungen der Lehrerin beeinflussen ihr eigenes Verhalten gegenüber der Klasse und damit auch deren Leistung. Es ist also eine selbsterfüllende Prophezeiung: Sieht die Lehrerin ihre Schüler:innen als hohl an, weil sie immer noch nicht wissen, wie man einen Text in Einleitung, Hauptteil und Schluss unterteilt, wird sie dafür auch immer wieder Beweise finden.
Zu guter letzt: Lehrkräfte bekommen kein Burnout, weil die Schüler:innen schlimm sind. Sie bekommen Burnout, weil sie z.B. mit ihrer Arbeit einen Beweis (über sich) erbringen wollen. Mich interessiert, wieso die Lehrerin, die innerlich schon gekündigt hat, nicht auch tatsächlich aufhört. So verliert sie selbst, die Jugendlichen, ihre Kolleg:innen und wohl auch ihre Familie. Ist es wirklich sinnvoll für uns alle, lieber den Schüler:innen den schwarzen Peter zuzuschieben als achtsam bei sich selbst und der Lernumgebung zu schauen?
Wie kannst du dich für Jugendliche in der Schule einsetzen? Wo kann der herkömmliche Unterricht durch gemeinsames Tun in fächerübergreifenden Projekten ersetzt werden?