Deine Schüler:innen hören nicht auf dich? – Über Kooperation und Integrität im Unterricht

Über Kooperation und Integrität im Unterricht
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Es gibt Schüler:innen, die sich nicht an Regeln halten.

Jugendliche, die sich nicht von ihrem Handy trennen können.

Kinder, die gedanklich abwesend sind und dem Unterrichtsgeschehen nicht folgen.

Denkst du auch manchmal, das müsste besser klappen? Dir wird von allen Seiten mitgeteilt, dass Kooperation bei ihnen Fehlanzeige ist, sie womöglich schlecht erzogen sind?

Manchmal hilft ein Perspektivenwechsel, um eine Veränderung anzustoßen. Deshalb nehme ich dich in diesem Artikel mit in ein Seminar, das sich so oder so ähnlich abgespielt haben könnte:

Ein Seminar der besonderen Art

Ich sitze in der zweiten Reihe. Thema in etwa: „Reaktion auf neue Entwicklungen in der Schülerschaft“

Die Tischreihen sind akkurat aufgestellt und ich schaue auf meine Vordermänner und -frauen in wärmenden Jacken. (Ich sag nur: Corona.)

Ich trage meine Maske, obwohl wir uns eben alle getestet haben. Verstehe ich nicht. Woanders kann ich die Maske abnehmen, wenn ich sitze, und hier nicht? Mein Nachbar sitzt zwei Meter von mir entfernt. Na super, das gibt nachher wieder Kopfschmerzen.

Nicht, dass es nachher heißt: „Ich weiß nicht, was ich tun soll!“

„Guten Morgen! Da ich heute hier den größten Redeanteil habe, werde ich meine Maske abnehmen. Ich denke, Sie verstehen, dass es sonst ziemlich anstrengend für mich wäre.“ Ah, ist das die Begrüßung? Ok. Das ist also der Seminarleiter.

Er liest dann von seinem Zettel ab, worum es heute geht. „Der Kopierer war kaputt und der OHP nicht greifbar…deshalb muss es jetzt so gehen“, meint er. Er faselt etwas von Möglichkeiten und Grenzen der Individualisierung, Bringschuld der Schüler:innen bei Fehlzeiten usw.

Mein Stuhl wird langsam unbequem, obwohl ich erst 15 Minuten darauf sitze.

Ich schaue aus dem offenen Fenster nach draußen in die Sonne, da reißt mich der Seminarleiter aus meinen Gedanken: „Passen Sie bitte auf! Das ist wichtig, was ich Ihnen gerade erzähle. Nicht, dass es nachher heißt, Sie wüssten nicht, was Sie tun sollen!“

Was macht der mich denn so an? Kann ich was dafür, wenn er einen langweiligen Start ins Seminar wählt? Als Lehrer müsste man doch eigentlich wissen, dass es ganz andere und vor allem spannendere Möglichkeiten gibt, eine Stunde zu gestalten.

Mist, ich muss zur Toilette!

Ich lehne mich zurück und höre seiner monotonen Stimme geistig abwesend zu. Mist, ich muss zur Toilette. Heute Morgen habe ich erst unsere drei Kinder für die Kita und Grundschule fertig gemacht, sie hingebracht und im Auto noch schnell mein Frühstück heruntergeschlungen.

Seminarbeginn war 7.30 Uhr. Später ging nicht, weil man sonst hausinterne Abläufe ändern müsste, so die Begründung. Aha.

Ich wollte pünktlich sein und nicht direkt negativ auffallen. Der Seminarleiter ist dafür bekannt, dass er alle Zuspätkommer erstmal vor allen bloßstellt…das brauche ich nun echt nicht.

Kooperation und Integrität

Ich will aufstehen, um zur Toilette zu gehen. „Wieso stehen Sie einfach so auf? Ich rede gerade! Setzen Sie sich hin und melden Sie sich, wenn Sie etwas sagen wollen!“

Hallo?! Das geht hier niemanden etwas an, dass ich pinkeln muss! „Ich möchte zur Toilette“, sage ich pampig. „Nein, dafür ist die Pause da. In 15 Minuten machen wir Kaffeepause, dann können Sie gehen.“

„Nein, ich möchte JETZT zur Toilette!“, entgegne ich. Der Blick des Seminarleiters verhärtet sich. „Von welcher Schule kommen Sie nochmal? Von der Franziska-Holthausen-Gesamtschule? Die ist ja bekannt für Querulanten wie Sie. Ich werde das beim nächsten Gespräch mit Ihrer Schulleitung gerne thematisieren, wie unkooperativ Sie sind. Und jetzt möchte ich, dass Sie sich hinsetzen.“

Wo bin ich denn hier gelandet? Weil mich die anderen fast schon flehend angucken, mich wieder hinzusetzen, tue ich es. Aber der Typ wird schon noch sehen, was er davon hat. SO lasse ich nicht mit mir umgehen.

Wenn das Handy klingelt

Überhaupt, wieso muss ich hier überhaupt sitzen? Diese Fortbildung ist Pflicht, aber sie ist für mich absolut sinnlos.

Na gut. Ich bin erwachsen. Ich sitze die Zeit ab und freue mich schon auf meine Familie heute Nachmittag. Der Gedanke an köstlich duftende Waffeln am Tisch mit meinem Mann und unseren Kindern tröstet mich darüber hinweg.

„PIEP PIEP PIEEEEEEEEEP!“ Verdammt, mein Handy klingelt! Es ist die Pflegerin. Geht es meiner Mutter doch schlechter? „Also wirklich! Das hier ist eine Handyverbotszone! Sie sollten ihr Handy doch vorne abgeben! Es ist wirklich unverschämt, was Sie sich hier leisten.“

„Da muss ich ran, es ist dringend!“, erwidere ich und verlasse zum Telefonieren den Seminarraum.

Zum Glück braucht meine Mutter nur ein paar Unterlagen für die weitere Behandlung. Das kann ich auf dem Rückweg noch organisieren. Also gehe ich wieder rein.

„Na, sind Sie etwa eine Ärztin in Bereitschaft?“, blafft mich der Seminarleiter von der Seite an.

Ich gehe nicht darauf ein. Besser ist das.

Arbeitsblätter in Einzelarbeit

Auf meinem Platz finde ich eine Reihe von Arbeitsblättern. Die sollen wir nun bearbeiten. Erst in Einzelarbeit und dann im Austausch mit unserem Sitznachbarn. Mit 1.5 Meter Abstand versteht sich.

Boah, habe ich da keine Lust drauf! Wer glaubt denn, dass wir so irgendetwas lernen?

Während ich den dreiseitigen Text mit meinem Leuchtstift markiere, geht der Seminarleiter (immerhin mit Maske) an den Tischreihen vorbei. Er beäugt meine markierten Stellen aus der Entfernung und ich kann ihn sogar unter der Maske seine Nase rümpfen sehen.

„Denken Sie daran, dass wir heute Nachmittag einen Test schreiben! Also strengen Sie sich an. Wissen Sie, Sie können alles schaffen, WENN Sie nur wollen!“

Die Arbeitsphase überstehe ich auch irgendwie. Weiterhin sinnlos. Aber das bin ich mittlerweile gewohnt.

Endlich Mittagspause!

Endlich kann ich essen, trinken und zur Toilette gehen. Ist das nicht unlogisch? Ich soll während des Seminars nicht essen oder zur Toilette gehen, um den Ablauf nicht zu stören. Dabei kann ich doch viel besser mitarbeiten, wenn ich satt bin und meine Blase nicht ständig „Hier!“ ruft.

Ist es dem Fortbildungsinstitut vielleicht gar nicht so wichtig, dass ich mich gut konzentrieren kann? Weil ich als einzelne Seminarteilnehmerin untergehe? Weil sie glauben, das müsste man doch aushalten für die paar Stunden?

Ein weiterer Punkt, den ich nicht nachvollziehen kann…bin ich die Einzige, die das so sieht? Oder…stimmt mit MIR etwas nicht?

Ich schüttle den Gedanken wieder ab. Gleich geht es weiter. Vor der Tür treffe ich noch meine Kollegin vom Gymnasium um die Ecke. Ich frage sie, ob sie diese Regeln auch fragwürdig findet.

„Ja, irgendwie schon. Aber das ist überall so. Deshalb macht es wohl keinen Sinn, das anzusprechen. Gibt doch nur Stress.“

Wir gehen in den Seminarraum zurück. Vielleicht hat sie Recht.

Mich interessiert der Test nicht!

Die Zeit zieht sich wie Kaugummi. Zwischendurch versucht der Seminarleiter uns mit Sprüchen wie „Für mich ist es auch schon Nachmittag!“ anzutreiben. Dann steht der Test an.

„Jetzt zeigt sich, ob Sie heute gut aufgepasst haben! Es kommt alles dran, was wir heute besprochen haben. Sie haben genau 23 Minuten Zeit für die Aufgaben. Alles, was ich nicht lesen kann, werte ich nicht. Viel Erfolg!“

„Demotivationsredner“ wäre für ihn die passendere Stellenbeschreibung…

Irgendwie schaffe ich es, den Test auszufüllen. Mich interessiert nicht die Bohne, was ich schreibe. Das Ergebnis übrigens auch nicht. Solange mein Job dadurch nicht gefährdet ist, ist mir die Note egal.

Deshalb nehme ich den direkten Weg zum Auto, statt auf mein Ergebnis zu warten.

Ich lasse mich auf den Fahrersitz fallen. Was für eine Zeitverschwendung das heute war! Ich fühle mich machtlos, müde, gereizt und … klein.

Der Akku für Kooperation ist irgendwann leer

Eine absurde Vorstellung, dass ich mir das von einem anderen Erwachsenen bieten lasse?

Das ist für die Mehrheit aller Kinder Schulalltag.

Du weißt nicht, wie viel schon vor der Schule bei ihnen los war. Trotzdem kommen sie pünktlich, machen aktuell die Testungen mit und tragen ihre Maske, auch wenn die Gründe für sie nicht nachvollziehbar sind. Es ist bekannt, dass der Schulanfang für Jugendliche (insbesondere Jungen) zu früh ist, weil sich ihr Schlafverhalten verändert. Trotzdem sind sie, zumindest körperlich, anwesend ? Sie erledigen die Arbeitsaufträge, auch wenn sie ihnen sinnlos erscheinen…ich könnte noch viele weitere Punkte nennen.

Wie oft wir das als selbstverständlich abtun! Doch haben wir Erwachsene eben viel mehr Privilegien als unsere Kinder. Wir sind verantwortlich für weite Strecken ihres Tagesablaufs. Wir entscheiden, wann sie spätestens aufstehen müssen, wann sie essen, trinken oder zur Toilette dürfen (Ja, Letzteres dürfen wir ihnen gar nicht verbieten und doch ist das in der Praxis so!).

Wenn du das nächste Mal denkst, ein Kind sei unkooperativ, frage dich: An wie vielen Stellen hat es bereits kooperiert?

Uns fällt oft nur das problematische Verhalten auf und wir übersehen den weitaus größeren Teil, wo ein Kind sich den Gegebenheiten anpasst. Dabei passiert es im Laufe eines Schultages schnell, dass der Akku für Kooperation schlichtweg leer ist. Das geht uns Erwachsenen schließlich nicht anders. Deshalb sind beide Seiten spätestens im Nachmittagsunterricht schnell gereizt.

Zwischen Kooperation und Integrität

Ich mag außerdem diesen Spruch sehr:

„Ein Kind, das nicht auf dich hört, hört auf sich selbst.“

Damit ist die Spannung zwischen Kooperation und Integrität gemeint. Alle Menschen bewegen sich zwischen diesen beiden Polen. Wir wollen sowohl Teil der Gemeinschaft sein als auch unsere Grenzen und Bedürfnisse anderen gegenüber wahren.

Wenn also offenbar die Grenze eines Kindes überschritten oder ein Bedürfnis unerfüllt ist, macht es auf seine Art darauf aufmerksam. Vielleicht ist es in dem Moment nicht möglich, die Situation zu ändern. Aber dass du darum weißt und es ansprichst, kann schon einen Unterschied machen.

Bei der Familienwerkstatt gibt es einen passenden Artikel, wie wir die Integrität der Kinder stärken können. Er ist für Eltern geschrieben und in weiten Teilen auf die Schule übertragbar. Den folgenden Absatz habe ich auf die Schule übertragen:

„Natürlich ist es auch hilfreich, über die besonderen Bedürfnisse des Kindes und über die allgemeinen Bedürfnisse von Kindern in bestimmten Entwicklungsstufen Bescheid zu wissen. Und über die generellen Bedürfnisse von Kindern: nach Nähe und Schutz genauso wie nach Autonomie und Eigenverantwortung, nach Räumen zum Forschen, Experimentieren, Ausprobieren verrückter Ideen, nach Räumen, in denen Fehler gemacht werden dürfen, nach Zeit mit der Gruppe und Zeit für sich alleine.“

https://familienwerkstatt.online/blog/integritaet-staerken/

Young Carer

Wenn du hier schon länger mitliest, kennst du dich mit Mental Load, Carearbeit & Co bei Lehrerinnen aus. Doch nicht nur Erwachsene pflegen Angehörige oder haben Verantwortung zuhause, so wie ich in diesem fiktiven Seminar die Ansprechperson für die Pflegerin bin.

Auch Kinder und Jugendliche übernehmen Fürsorge-Aufgaben zuhause und sind deshalb abgelenkt, müde oder vielleicht gereizt im Unterricht. Die Initiative Equal Care Day hat bei Instagram darauf aufmerksam gemacht:

„Laut der Studie „Die Situation von Kindern und Jugendlichen als pflegende Angehörige“ (2018) sind 6,1% der Schüler*innen zwischen zehn und 19 Jahren für die Pflege eines oder mehrerer Angehöriger zuständig. Das sind im Schnitt ein bis zwei Betroffene pro Schulklasse. In der Mehrzahl sind die #YoungCarers weiblich (64%). (…)
Viele von ihnen sind rund um die Uhr in Bereitschaft, um auf unvorhergesehene Krisen reagieren zu können.
In den Medien oder innerhalb politischer Debatten sind die #YoungCarers nahezu unsichtbar. Aus Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung reden die Jugendlichen selbst kaum darüber. Viele Familien, deren Kinder in die Pflege eingebunden sind, fürchten zudem die Einmischung von außen, etwa durch das Jugendamt.
Die daraus erwachsenden Belastungen für pflegende Kinder und Jugendliche sind immens. Oftmals bleibt ihnen kaum Zeit für Freundschaften zu Gleichaltrigen, ihren Hobbies nachzugehen oder für die Schule zu lernen. Hinzu kommen Schlafmangel und gesundheitliche Risiken als Folgen von Sorgen und nächtlicher Bereitschaft.

Quelle: https://www.instagram.com/p/CTE6vtcMbB7/?utm_source=ig_web_copy_link ; mit Bezug auf den Abschlussbericht zum Projekt „Die Situation von Kindern und Jugendlichen als pflegende Angehörige“ (2018);

Es lohnt sich also, genauer hinzusehen und Bedürfnisse und Grenzen deiner Schüler:innen wahrzunehmen. Ganz besonders bei denen, die nicht kooperieren – weil sie für sich selbst einstehen.

Deine Ann-Marie

Wie wäre es eigentlich, wenn das Verhalten deiner Schüler:innen nicht automatisch Ärger, Angst oder Unverständnis bei dir hervorruft? Wenn du gar nicht erst in die Frust-Abwärtsspirale im Laufe eines Schultags einsteigst? Ich zeige dir, wie du deine Gefühle in der Schule selbst in die Hand nimmst, egal wie sich deine Mitmenschen verhalten:

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