Schuljahresanfang bedeutet für viele von uns, Klassenregeln aufzustellen.
Geht ein interessierter Gast durch die Räume einiger Schulen, sieht er Verträge, die von allen unterschrieben wurden. Oder Listen, die „Wir“-Sätze aneinander reihen. Oder jede Regel einzeln auf buntem Papier hervorgehoben. Das „Wie“ ist höchst pädagogisch wertvoll.
Das „Was“ wirft manchmal Fragen auf…welches Kind unterschreibt denn Regel 12 ernsthaft, die da lautet: „Wir schreiben in Klassenarbeiten nicht voneinander ab“? Wieso ist das überhaupt eine Klassenregel? Und wer soll sich die anderen 11 Regeln merken können?
Inhalt
Wir schreiben in Arbeiten nicht voneinander ab
Ein demokratisches Abstimmen kann wohl nicht die Grundlage dieser Regel sein. Was wäre, wenn Schüler:innen es DOCH tun? Heißt es dann bei der Reflexion im Klassenrat:
„Du hast gegen unsere Regel verstoßen. Da vorne steht es, es ist die Nr. 12!“
„Ach ja! Hatte ich wohl vergessen…Entschuldigung.“
Wenn Der- oder Diejenige sowieso eine schlechtere Note wegen des Abschreibens bekommt, wieso muss das zusätzlich schriftlich fixiert werden?
Es erscheint mir so, als müssten sich Lehrer:innen damit absichern. Als bräuchten sie manche Regeln, weil sie dann darauf verweisen können und nicht blöd diskutieren müssen. Der Konflikt löst sich dann durch den strengen Blick zur Regelliste hoffentlich von selbst auf.
Aber dadurch haben wir nicht nur einen erhobenen Zeigefinger, sondern nehmen den Mittelfinger noch dazu. Die liebe Moral, die eine vertrauenswürdige Beziehung verhindert, lässt grüßen! Keine Regel dieser Welt schützt uns vor Konflikten.
Manchmal lenken Lehrer:innen damit auch davon ab (oder darauf hin, wie man’s nimmt), dass sie unsicher in Bezug auf ihre Rolle sind. Wir können uns fragen:
- Würden die Schüler:innen mir auch folgen, wenn es die Regel nicht gäbe?
- Wer bin ich, dass sie mir vertrauen können?
- Was denke ich über ‚folgen‘?
- Existiert in meinem Kopf die Möglichkeit, dass sie es gerne tun könnten?
- Und wem folge ich eigentlich (gerne)? Und wem nicht?
Günstig ist, wenn wir selbst positiv darüber denken. Ungünstig wird’s für die Einhaltung der Regeln, wenn wir glauben: ‚Wer anderen folgt, ist ein Lemming.‘ (Das Thema ist verwandt mit einem Artikel, den ich über ‚Bedingungen‚ geschrieben habe.)
Regeln: Die Masse macht’s?!
Im obigen Beispiel landeten wir bei 12 Regeln. Auch 8 bis 10 Regeln sind keine Seltenheit. Abgesehen von den Hintergründen, die zu dieser Masse führen, stellt sich mir eine andere Frage: Wie sollen Kinder sich orientieren, wenn sie ständig bedenken müssen, dass sie womöglich gerade ‚eine Regel brechen‘? Egal ob im Unterrichtsgespräch, bei Gruppenarbeiten oder in den Pausen: Irgendwas Besonderes gibt es immer zu beachten.
In meinem ersten Jahr als Klassenlehrerin war ich eifrig dabei, Regeln mit den Schüler:innen zu erstellen. Die ganze Tafel war voll. Die Kinder hatten massig Ideen dafür, an welche Regeln sich unsere Klasse halten könnte. Und ich verlor den Überblick. Irgendwie war doch alles wichtig?!
Zum Glück konnte mein Kollege, der mit mir im Team die Klassenleitung hatte, seine Sicht einbringen und mich damit retten. Er fasste alle Regeln in einer zusammen:
Wir gehen respektvoll miteinander um.
Super war, dass wir nun an der Tafel bereits viele Beispiele dafür gesammelt hatten. Und im Schuljahr kamen einige Anlässe zur Reflexion unserer Leitlinie dazu.
Das bedeutete bei jedem Konflikt, darüber zu sprechen und zu überlegen, wieso ein bestimmtes Verhalten nicht respektvoll ist und was eine respektvolle Alternative wäre. Die Kinder mit den Regeln allein zu lassen und wiederholt nur auf deren Existenz zu verweisen, bringt meiner Ansicht nach nicht viel. Für Reflexion braucht es selbstverständlich einen passenden Rahmen; an meiner Schule gibt es den außerhalb des Fachunterrichts z.B. im Klassenrat. Das ist nicht überall gegeben und geht dann auf Kosten des normalen Unterrichts.
Unser Gehirn kennt kein nicht
„Wir rennen nicht durch die Klasse.“
„Wir dulden keine rassistischen Sprüche.“
„Wir streiten uns nicht.“
Solche Formulierungen helfen den Schüler:innen nur begrenzt weiter, sie legen den Fokus auf das, was eben nicht sein soll. Unser Gehirn kennt kein nicht. Für unsere Schaltzentrale hängt an der Wand: ‚rennen‘, ‚rassistische Sprüche‘, ’streiten‘. Und in diesem Modus steuert es das Verhalten.
Letztlich gibt es viele Klassen, die wissen, was sie nicht tun sollen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie wissen, was sie tun könnten.
Einfacher für alle sind positive Formulierungen ohne nicht, kein etc. Das ist manchmal anspruchsvoll, eben weil die negative Ausrichtung so normal ist. In unserem Beispiel ist direkt die erste Umformulierung schwierig. „In der Klasse und im Gebäude gehen wir.“ Klingt komisch…“Wir nehmen Rücksicht aufeinander.“ Ja, könnte aber auch auf andere Bereiche zutreffen, wie beim gegenseitigen Zuhören. Was würdest du stattdessen wählen? Auch aus diesem Grund mochte ich unsere einzige Regel sozusagen als große Überschrift.
Wir dürfen es uns leichter machen
Ich spreche mich durchaus für Klassenregeln aus. Und ich finde, wir dürfen es uns und den Kindern leichter machen. Dafür lohnt es sich, wenn wir zuerst bei uns selbst schauen: Wozu will ich Regeln in meiner Klasse umsetzen? Und dann hilft mir persönlich die Frage weiter: Welche Regel ist mir für diesen Zweck so wichtig, dass sie jederzeit sichtbar für alle ist?
Kinder an weiterführenden Schulen wissen, dass sie sich melden, dass sie sich gegenseitig zuhören usw. Sie werden es öfter tun, je mehr sie in der Klasse Zusammengehörigkeit erfahren. Es dauert, bis wir das etabliert haben. Das ist die echte Basis für ein funktionierendes Zusammensein. Schön finde ich da die Möglichkeit der Rückmeldung, wann und wo das bereits gut klappt. Auch so lenken wir den Fokus auf das Positive, auf gelingende Zwischenschritte.
Welche Klassenregel ist dir wichtig und warum?
P.S.: Willst du wissen, was noch wichtig ist, wenn du beziehungsstark in der Schule unterwegs sein willst? Die wichtigsten 10 Schritte zur neuen, beziehungsstarken Lernkultur zeige ich dir in diesem Blogartikel.