Hauptsache, du fühlst dich wohl und kannst ungestört arbeiten. Wenn du eine Pause brauchst, mach Pause. Wenn dir zu einer Frage nichts einfällt, mach bei der nächsten weiter. Und wenn du später etwas hinzufügen oder ändern willst – mach das! Fang an, wenn du bereit bist.
Klingt das einladend? Fühlst du dich persönlich angesprochen? Willst du sofort loslegen? So ging es mir jedenfalls, als ich das in meinem Kalender für 2021 las, der auch mit einem Coachingteil versehen ist. Mein nächster Gedanke war:
Wieso zeigen wir dieses selbstgesteuerte Lernen den Kindern in der Schule eigentlich nicht?
Die letzten Monate haben uns gezeigt, dass wir in Schulen individualisiertes, selbstgesteuertes Lernen voranbringen müssen. Besonders in den letzten Wochen haben sich so viele Lehrer:innen zerrissen, weil sie sowohl für die Kinder in den Schulen vor Ort als auch für diejenigen in Quarantäne Unterricht und Material vorbereitet und durchgeführt haben.
Dabei sind zwei Dinge deutlich geworden:
Da wir uns auf weitere Präsenz- und Distanzlernphasen einstellen müssen, ist hier also wirklich Entwicklungsbedarf!
Wie lassen wir die Schüler:innen aktuell lernen?
Ein Problem ist sicherlich, dass wir immer noch im traditionellen Denken verhaftet sind. Die Schüler:innen lernen eben nach wie vor nach dem Motto ‚Alle lernen zur gleichen Zeit dasselbe im selben Tempo‘. Diese Haltung hat sich auch im digitalen Lernen nicht geändert.
Und wenn wir ehrlich sind, trauen die Allermeisten ihnen auch gar nicht zu, selbstgesteuert und freiwillig zu lernen. Deshalb musste oft auch der Druck während des ersten Lockdowns aufrecht erhalten werden, indem z.B. kurz nach Abgabefrist eingereichte Aufgaben nicht mehr gewertet wurden. Wenn wir jedoch Möglichkeiten der Selbstüberprüfung geben, muss die Lehrkraft auch nicht alles kontrollieren.
Dahinter steckt eine Haltung, die bisher verhindert hat, dass wir wirklich selbstgesteuertes Lernen ermöglichen. In Grundschulen mag das anders sein; doch welches Bild haben wir z.B. von Acht- oder Neuntklässlern? Darüber kannst du z.B. in meinem Artikel „Wie sehen wir Jugendliche? – Lästerpäuschen im Lehrerzimmer“ mehr lesen.
Spicken verboten?!
Zurück in der Schule wurden nun auch Klassenarbeiten wieder nach altem Schema geschrieben. Alle schreiben gleichzeitig zum gleichen Thema. Dabei gilt außerdem, dass keine Hilfsmittel erlaubt sind und die Leistung allein erbracht werden muss. Ergo: Wer zusammenarbeitet, wird bestraft.
Ist das nicht bescheuert, dass wir Teamarbeit in den Himmel loben und dann sagen: „Wenn du in der Prüfung mit anderen zusammenarbeitest, schummelst du!“? Damit schüren wir Misstrauen, Ellenbogenmentalität und Angst. (Ja, ich weiß: Wie sollen wir sonst einzelne Leistungen bewerten? Trotzdem ist dieses Szenario widersprüchlich.)
Naja, und wir schüren damit das heimliche Spicken. Deshalb habe ich es mir schon zur Gewohnheit gemacht, dass alle Kinder in der letzten Stunde vor der Arbeit ihren individuellen Spickzettel schreiben können. Mit zwei Spielregeln:
1. Es werden maximal drei Punkte notiert.
2. Der Spickzettel wird während der Arbeit in der Tasche aufbewahrt.
Alle Kinder wissen, was auf ihrem Zettel steht, ohne darauf zu schauen. So sinkt die Nervosität vor und in der Arbeit und die Konzentration steigt. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Spickzettel in der Stunde vor der Arbeit verglichen werden können, sodass nebenbei das Thema zusammengefasst und wiederholt wird. Interessant ist auch, dass jedes Kind etwas Anderes notiert.
Wie kann es gelingen?
Die Spickzettelmethode deutet Individualisierung an. Sie zeigt bereits, dass jede:r anders lernt, weil eben jedes Gehirn anders ist. Doch ist Selbststeuerung mehr als Individualisierung. Ich persönlich habe im Zuge der Umstellung auf gehirngerechten Unterricht ganz neue Ideen für selbstgesteuertes Lernen bekommen.
Meine Erfahrungen mit der Birkenbihl-Methode im Lateinunterricht – auch während des ersten Lockdowns – kannst du in der Kategorie ‚gehirngerechtes Lernen‘ verfolgen.
Auch in meinem Lateinunterricht ist der nächste logische Schritt, die Schüler:innen in ihrem eigenen Tempo und auf ihre eigene Weise lernen zu lassen. Nur so kann ich die neuronal Schnellen und neuronal Langsamen gleichermaßen mitnehmen.
Dahinter steht meine Haltung, die Schüler:innen wirklich zu erreichen und nachhaltiges Lernen zu ermöglichen. Auf dem konventionellen Standpunkt (‚Schüler:innen müssen ins System passen, ansonsten werden sie passend gemacht‘) hätte ich meinen Unterricht niemals umgestellt.
Wenn Schulen sich also auf den Weg machen wollen, Konzepte für individualisiertes bzw. selbstgesteuertes Lernen zu erstellen, steht am Anfang die Reflexion der eigenen Haltung!
Das schildert auch Stefan Ruppaner, Schulleiter der Alemannenschule in Wutöschingen, im Podcastinterview bei ‚Schulbildung mal anders‘. Diese Schule hat 2019 den deutschen Schulpreis bekommen 😉 Diese Podcastfolge kann ich dir sehr empfehlen!
Birkenbihl macht’s möglich
Mithilfe der vier Schritte der Birkenbihl-Methode können die Schüler:innen je nach Bedarf individuell arbeiten. Wir haben bereits sämtliche Audiodateien und Dekodierungen auf einem Padlet gesammelt. So können sie auch von zuhause aus auf das Material zugreifen.
Sie können einen Text aktiv hören oder während einer Übung parallel eine beliebige Lektion über Kopfhörer passiv hören. Oder es finden sich Gleichgesinnte, die gemeinsam ein lateinisches Rollenspiel vorbereiten…usw. Mit Individualisierung meine ich nämlich nicht, dass nun jede:r allein für sich lernt, sondern dass die passende Sozialform individuell gewählt werden kann. Selbstgesteuert eben!
Sind einige Schüler:innen oder keiner vor Ort in der Schule, brauchen sie nur ihr Smartphone, damit sie auf das Material zugreifen und wir digital zusammen kommen können. Das Konzept an sich muss sich dann aber nicht ändern, wenn alle sowieso individuell lernen. Demnächst sollen auch Apps und Tools ergänzt werden, damit wir vermehrt kooperative, gehirngerechte Einheiten einbauen können.
In der Konsequenz sind wir nicht mehr alle zur gleichen Zeit bei derselben Lektion, sondern unterschiedlich schnell. Meine Arbeit besteht dann aus Feedback und Beratung – Beziehungspflege pur!
Fang an, wenn du bereit bist
Zurück zu den einladenden Worten in meinem Kalender. Ich bin am letzten Satz hängen geblieben: Fang an, wenn du bereit bist.
Ich erinnere mich an meine Hospitation an der Gesamtschule Heinsberg, einer Schule im Aufbruch. (Hatte ich erwähnt, dass ich von dieser Initiative fasziniert bin?) Teil des Konzepts ist das selbstgesteuerte Lernen. Die Kinder wählen morgens, mit welchem Fach sie sich befassen wollen und können dann ins Lernbüro für Deutsch, Englisch, Mathe… gehen. Dort ist eine Lehrkraft ansprechbar, aber es gibt keinen Unterricht. Die Kinder erarbeiten sich das jeweilige Material selbstständig. Einmal wöchentlich wird jedes Kind vom Tutor beraten.
Auch Stefan Ruppaner schildert im Podcastinterview, dass das individualisierte Lernen dort normal sei. Dort wurde darüber hinaus eine digitale Materialsammlung entwickelt, die auch von anderen Schulen genutzt werden kann. So können die Schüler:innen erfolgreich lernen.
(Natürlich zeichnet sich eine solche Preisträgerschule auch durch andere Dinge aus, die wiederum der Individualisierung zugute kommen. Meine Darstellung ist hier sehr kurz gefasst.)
Gelingensnachweis vs. Prüfung
Als Überprüfung werden auch Arbeiten geschrieben. Dann, wenn das einzelne Kind bereit ist. Das finde ich so großartig! Ruppaner spricht nicht von Arbeiten, sondern von Gelingensnachweisen. Allein dieses Wort zeigt, welche Haltung an dieser Schule gelebt wird.
Die Rückgabe erfolgt anders als wir es gewohnt sind. Das Kind bekommt Feedback und Beratung, das Material verbleibt in der Schule. Sonst müsste die Lehrkraft ja für alle eigene Gelingensnachweise erstellen, was natürlich nicht realistisch ist.
Was ist bei dir möglich?
Bist du bereit, als Lehrer:in deine klassische Rolle zu verlassen? Mehr zu beraten als zu bewerten, mehr zuzuhören als zu erzählen, mehr nachzufragen als zu wissen? Vertraust du deinen Schüler:innen, dass sie Lust haben zu lernen und neugierig sind? Gestehst du ihnen Selbstverantwortung zu?
Dann hast du beste Voraussetzungen dafür, selbstgesteuertes Lernen zu ermöglichen.
Am Beispiel der Arbeiten bzw. Gelingensnachweise: Wie kannst du das an deiner Schule umsetzen, dass die Kinder sich entscheiden, wann sie den Nachweis erbringen wollen? Gibt es statt eines festen Datums vielleicht wenigstens eine Woche, in der sie schreiben können? Oder sogar einen längeren Zeitraum?
Welche räumlichen Möglichkeiten gäbe es, damit jedes Kind in Ruhe arbeiten kann? Und wer im Kollegium wäre mit im Boot und würde dich unterstützen, damit du dich nicht teilen musst? Könntet ihr euch vielleicht im Jahrgangsteam auf ein Vorgehen einigen?
Für dieses Vorhaben muss das gesamte Schulleben neu gedacht und organisiert werden. Zeit, Räume, Beteiligte, Medien…irgendwo müssen wir eben anfangen. Wichtig ist, wo du hin willst und welche Haltung du hast. Das ‚Wie‘ kommt dann.
Um mit einem Gedanken von Stefan Ruppaner abzuschließen: Wenn wir mit den Kindern Baumhäuser (!) bauen wollen, geht das nicht in 45 Minuten. Die Frage ist also nicht: Was können wir in 45 Minuten schaffen? Sondern: Wie ermöglichen wir es, dass wir Baumhäuser bauen können?
Berichte gerne in den Kommentaren, wie du diese Herausforderung an deiner Schule angehst!
P.S.: Lies hier die wichtigsten 10 Schritte zum Aufbau einer beziehungsstarken Lernkultur, die ich für dich festgehalten habe!