Vereinbarkeit von Familie und Beruf als „Empfindlichkeit“ – oder: Kretschmanns Vorschlag der Mehrarbeit in Teilzeit

Teilzeit und Carearbeit
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Diese Woche schlug mein feministisches Lehrerin-Herz schneller, leider aus Wut statt aus Freude.

Kretschmann schlug vor, dass Teilzeitlehrkräfte in BaWü mehr unterrichten sollen. Bei SWR Aktuell heißt es: „Die Teilzeit-Regelungen seien sehr großzügig, sodass vor allem viele Lehrerinnen nur relativ wenige Stunden unterrichteten, stellte Kretschmann fest. Er bekräftigte, wenn jede Lehrerin in Teilzeit eine Stunde mehr unterrichten würde, hätte man umgerechnet 1.000 Lehrerstellen.

Vereinbarkeit von Beruf und Familie als „Empfindlichkeit“

Auf die Frage, ob eine Einschränkung der Teilzeit nicht auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beeinträchtige, sagte Kretschmann: „Von solchen Empfindlichkeiten sollten wir mal Abschied nehmen, bei der Weltlage, in der wir sind.“ (https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/kretschmann-arbeitszeit-lehrer-100.html)

Das kann nur jemand sagen, der in seinem Leben noch nicht verantwortlich für Familienorganisation UND gleichzeitig berufstätig war. Und es ist wohl kein Zufall, dass ein Mann ein abschätziges Urteil über eine Situation trifft, die eben meistens Frauen betrifft.

Ich kann es wirklich gut ertragen, wenn Hansi und Trude von nebenan meinen, Lehrkräfte arbeiteten zu wenig. Doch von Seiten der Politik erwarte ich Unterstützung – zumindest keine Abwertung. Klar, ich arbeite in NRW, mich betrifft das also offiziell nicht. Es lässt mich trotzdem nicht kalt, weil es ein gesellschaftliches Problem ist!

Die Mehrheit der Lehrerinnen arbeitet in Teilzeit

In Baden-Württemberg sind 69% der Lehrkräfte weiblich, davon 65% in Teilzeit. (Bei Lehrern ist es genau andersherum, sie arbeiten zu 68% in Vollzeit).  https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Statistik_AKTUELL/803421002.pdf

Ein Hauptgrund dafür ist eine Arbeit, die Kretschmann offenbar nicht wahrnimmt. Sie nennt sich Carearbeit und wird mehrheitlich von eben diesen Lehrerinnen vor, (gedanklich auch während) und nach der Schularbeit geleistet.

Diese Arbeit ist unsichtbar und unentgeltlich. In der Summe arbeiten carearbeitende Lehrkräfte in Teilzeit also Vollzeit – nur dass ein Teil unbezahlt ist.

Über Gefühlsarbeit als Teil von Carearbeit und über Mental Load als Lehrerin und Mutter habe ich ausführlich geschrieben: Wieso sind Lehrerinnen häufig emotional erschöpft? und Mental Load im Lehrerjob – Frauen sind doppelt getroffen.

Ja, Kretschmann sprach von einer Unterrichtsstunde pro Lehrkraft. Problematisch daran ist einerseits, dass die Mehrarbeit ja schon längst stattfindet. Nicht unbedingt im Stundendeputat, sondern in zusätzlicher Arbeitszeit durch Organisation und Verwaltung (Hier greift also auch wieder der verbreitete Gedanke, außer Unterricht wäre bei uns nix los.)

Andererseits ist es auch möglich, diesen Vorschlag wertschätzend zu kommunizieren, ohne die Belange der Lehrkräfte zu diskreditieren. Es geht einfach darum, dass mal wieder nicht gesehen wird, welcher Wert in der Verantwortung für Familie, die sich sowohl auf Kinder als auch auf Pflege eines erwachsenen Angehörigen beziehen kann, steckt.

Ich bin Lehrerin in Teilzeit und Mutter von drei Kindern. Ich will mir von einem Mann, der sich wohl nie Gedanken über Vereinbarkeit von Familie und Beruf machen musste, nicht sagen lassen, wie ich mich zu fühlen habe.

„Wir sind in einer schweren Krise und da sollte man nicht sein übliches Latein abspulen, sondern sich selbst mal auf so eine Situation einstellen,“ meinte Winfried Kretschmann diese Woche.

Ich nehme Sie beim Wort, Herr Kretschmann.

Statt also, wie üblich, Schulen und Lehrkräften stetig mehr Aufgaben bei fehlendem Ausgleich aufzubürden, könnte der Dienstherr sich mal auf eine solche Krisensituation einstellen und genau diese Lehrkräfte unterstützen. Es könnten ansonsten diejenigen sein, die statt Teilzeit bald gar nicht mehr in der Schule arbeiten.

Ob sich ein Dienstherr das in dieser schweren Krise erlauben kann? Wohl kaum.

Welche Gedanken hast du bei diesen Aussagen?

Deine Ann-Marie
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