2012 sitze ich in meinem letzten Uni-Semester im Büro meines Professors. Herr Terhart und ich sprechen über die neue Lehrerrolle und er sagt: „Lehrer werden zunehmend zu Coaches, zu Lernbegleitern der Schüler. Das traditionelle Rollenbild ist im Wandel.“
10 Jahre und drei Schulen später schreibe ich an meinem schulfreien Tag diesen Artikel. Prof. Terhart ist mittlerweile pensioniert und ich frage mich immer noch, wie das geht, Lernbegleiterin zu sein.
Das Eine ist nämlich, die Notwendigkeit zu sehen. Du stimmst mir doch zu, wenn ich sage, dass unsere Schüler:innen zunehmend selbstständig lernen sollten, oder? Selbstorganisation, Eigenverantwortung, Zielorientierung. Da sagen alle „Ja!“.
Das Andere ist die konkrete Umsetzung. Es ist gar nicht so einfach, diesen Weg zu gehen. Ob Herr Terhart auch dazu geforscht hat? Ich weiß es ehrlichgesagt nicht. Ich teile jedenfalls heute meine Sicht der Dinge mit dir und bin gespannt, wie du deinen Weg als Lernbegleiter:in erlebst.
Inhalt
Neue Lernformate
Seit meinem Start an meiner neuen Schule (falls du es noch nicht weißt, es ist eine Schule im Aufbruch), unterrichte ich in neuen Lernformaten: Im Lernbüro und im Lernen im Projekt (kurz LiP).
Im Lernbüro arbeiten die Schüler:innen der Jahrgänge 5 bis 10 auf individuellem Niveau in ihrem Tempo. Das gilt für die Fächer Deutsch, Mathe, Englisch, Gesellschaftslehre und Naturwissenschaften. Jeden Tag hat ein Kind die Wahl, in welchem Lernbüro es arbeitet. Die Materialien sind in Form von thematischen Bausteinen vorbereitet und in jedem Lernbüro auf dieselbe Art und Weise auffindbar. Ich bin sowohl in Deutsch als auch in Mathe eingesetzt.
Bei LiP ist ein Thema vorgegeben, das entweder an den Lehrplan in Gesellschaftslehre oder Naturwissenschaften andockt. Wir befassen uns also sowohl mit Themen wie Geld als auch mit unserer Erde im Weltall. Im Gegensatz zum Lernbüro findet es im Klassenverband statt und wird meistens von der Klassenleitung unterrichtet.
Zu Beginn eines Projekts nähern wir uns gemeinsam dem Thema. Alle suchen sich anschließend individuelle Forscherfragen aus, die sie eigenständig beantworten und als Gruppe in ein Produkt fließen lassen. Die Präsentation und Reflexion stehen am Ende. Die Schüler:innen lernen, zusammen zu arbeiten. Der soziale Aspekt steht also im Fokus.
Mein Ego
Es geht bei diesen Lernformaten nicht mehr darum, was ich alles weiß – sondern darum, die Kinder und Jugendlichen im Prozess zu begleiten und es wirklich ihren Prozess sein zu lassen.
Das finde ich gut – und zugleich kratzt es manchmal an meinem Ego!
Das traditionelle Rollenbild der Wissensvermittlerin ist damit eben nicht vereinbar. Zumal ich von unserer Erde im Weltall eher wenig weiß…
Früher konnte ich im Zweifel mit Wissen punkten. Daraus zog ich meine Kompetenz. Zwar geht es jetzt auch darum, bei Fragen verständlich zu erklären. Aber ich moderiere kein einheitliches Thema mehr, wo ich geballt zeigen kann, was sie bei mir lernen können ?
Mein Verstand schlägt also ständig Alarm, weil ich jetzt aus dieser Komfortzone raus muss.
Interessant, oder? Ich habe mir das Setting bewusst ausgesucht. Wie geht es dann denen, die an progressiven Schulen arbeiten, aber so gar nicht arbeiten wollen? Denn das gibt es auch: Lehrkräfte, die weiterhin ihren Unterricht so machen wollen wie immer.
Kreativität an anderer Stelle als gewöhnlich
Besonders im Lernbüro ist ein fester, verlässlicher Rahmen für alle sinnvoll. Ganz nach dem Montessori-Motto der vorbereiteten Umgebung finden die Schüler:innen die Materialien in jedem Lernbüro am gleichen Platz und der Ablauf der 90 Minuten ist ritualisiert. Als Lehrerin habe ich da keine Möglichkeit für spontane Einfälle oder kreative Stunden.
Der Kreativität kann ich aber vorher gemeinsam mit meiner Fachschaft bei der Materialerstellung freien Lauf lassen. Anstatt den Unterricht wie gewohnt täglich vorzubereiten, erstellen wir nämlich das Material für das gesamte Schuljahr des kommenden Jahrgangs. In diesem Jahr standen für die Fachschaften also die Inhalte des kommenden achten Jahrgangs an. Im nächsten Schuljahr arbeiten dann die Kinder aus Jahrgang fünf bis acht in den Lernbüros.
Die Herausforderung dabei ist, die Bausteine so ansprechend zu gestalten, dass die Schüler:innen keine stupide Büroarbeit vor sich haben. Da braucht es etwas Zeit und Erfahrung. Was funktioniert gut? Was sollte überarbeitet werden? Das geht nicht von heute auf morgen und ist eine große Kraftanstrengung für das Kollegium, weil noch nicht alle Jahrgänge abgedeckt sind.
Im laufenden Betrieb an qualitativ hochwertigem Material zu arbeiten, das übergreifende Standards erfüllen soll, ist fordernd.
Soziales Miteinander stärken & Lernen reflektieren
In diesen Lernformaten liegen Chancen für mich.
Beim Lernen im Projekt kann ich das soziale Miteinander in der Klasse stärken. Ich habe schon Ideen für Warm Ups, Reflexionen und Methoden wie eduScrum. Bei den Produkten will ich zunehmend auf Erklärvideos setzen. Vielleicht gibt es bald einen Youtube-Kanal von uns, wo du die Ergebnisse bewundern kannst ?
Im Lernbüro bin ich für den Ablauf und die Regeleinhaltung zuständig und ich beantworte individuelle Fragen. Hier ist Flüsterton angesagt, damit alle arbeiten können. Das klappt mal so, mal so, je nachdem, wie viel Unterstützung die Schüler:innen brauchen.
Manchmal fordern sie Hilfe ein, obwohl sie keine brauchen. Die erlernte Hilflosigkeit beim Lesen einer Aufgabenstellung ist Ergebnis des klassischen Systems, das sie in der Grundschule kennen gelernt haben. Da dürfen sie noch herauswachsen.
Hier sehe ich meine Chance in der Metaebene: Wie können sie in den konzentrierten Modus wechseln? Dafür brauchen sie aktuell bis zu 20 Minuten. Welche Übungen helfen ihnen dabei? Solange sie kurz und effektiv sind, kann ich zumindest eine Übung zu Beginn eines Lernbüros vorstellen.
Ich beobachte auch, dass es manchen Kindern an Strategien fehlt. Was machen sie, wenn sie eine Frage haben und die Lehrerin nicht sofort bei ihnen ist? Warten? Quatschen? Malen? Die nächste Aufgabe stattdessen beginnen?
Solche Themen können wir außerhalb des Lernbüros in der Beratungszeit besprechen. Da hat jedes Kind ca. einmal in der Woche ein Gespräch mit dem Tutor oder der Tutorin. So bleibt transparent, welche Bausteine schon bearbeitet sind und welches Ziel sich das Kind als nächstes setzt.
Vertrauen oder Angst?
Die neuen Lernformate fördern Selbstbestimmung und -organisation. Dadurch verändert sich also der unterrichtliche Rahmen. Manchmal zweifele ich, ob ich diesen Raum halten kann.
Vertraue ich mir selbst, dass ich die Kinder wirklich zu Ergebnissen empowern kann?
Es gibt Kinder, die mit der neu gewonnenen Freiheit wenig anfangen können. Da muss ich aushalten, dass der Lernprozess langsamer vonstatten geht und eben nicht alle zur gleichen Zeit fertig sind.
In der Theorie ist das gut – in der Praxis meldet sich mein Kontrolle liebendes Ego und posaunt: ‚Da ist schon jemand fertig, beschäftige ihn!!‘ oder ‚Die Gruppe streitet mehr als alles andere – so wird das nichts!‘
Es ist faszinierend. Viele Lehrkräfte haben Angst, dass sie den Lehrplan nicht erfüllen. Auf der anderen Seite reagieren sie aber genauso ängstlich, wenn Schüler:innen besonders schnell sind. Wir sind darauf getrimmt, die Kontrolle zu behalten und alle im Gleichschritt arbeiten zu lassen. Dieses Denken können wir nicht einfach abstreifen. Dafür braucht es ständige Reflexion.
Und was wäre, wenn ein paar Kinder wirklich um Einiges weiter bei den Inhalten sind als die anderen? Was wäre die Folge? Irgendwann würden sie eine Klasse überspringen… An dieser Stelle kommt gleich die nächste Frage auf:
Was bedeutet Partizipation für mich?
Wie viel Mitbestimmung ist für mich ok? Was mache ich, wenn Schüler:innen Nein sagen? Wenn Selbstbestimmung , Selbstorganisation, Kooperation und Partizipation Ziele sind, müssen die Schüler:innen auch Nein sagen dürfen, ohne dass ich mit einer schlechten Note drohe.
Da helfen mir meine Erfahrungen und mein Wissen über Beziehungsaufbau in der Schule. Ich zeige mich als Mensch und bin interessiert an ihnen als Menschen. Von vornherein mache ich klar, was mir wichtig ist. Automatisch schließt sich nun an, was ihnen eigentlich wichtig ist. Was brauchen sie, damit sie bereit sind mitzumachen?
Bewirke ich noch etwas?
Ich leiste, also bin ich.
Wenn ich leiste, werde ich geliebt.
Viele Lehrkräfte funktionieren nach solchen Glaubenssätzen. Fällt dann der herkömmliche Unterricht weg, ist die logische Schlussfolgerung, in den neuen Lernformaten nichts mehr zu leisten. Denn die Schüler:innen arbeiten ja an ihren Projekten oder im Lernbüro an den Bausteinen. Doch es ist eigentlich so:
„Erstens: Der Erfolg einer Lehrkraft bemisst sich im Ergebnis: Wenn die Jugendlichen selbständig denkend und handelnd etwas Neues, Produktives in die Welt stellen, ist die Arbeit erfolgreich. Ansonsten nicht. (Es reicht nicht, Stuhlkreise zu organisieren und bunte Zettel an die Wand zu kleben).
https://www.maikeplath.de/blog/hochachtung-fuer-den-lehrberuf
Zweitens: Wenn die Arbeit nach außen sichtbar erfolgreich ist, dann gilt neben aller berechtigten Anerkennung für die Jugendlichen der größte Respekt der Lehrkraft, die dahinter steht. Punkt.“
Seitdem ich mich auf den Weg gemacht habe und mich mit beziehungsstarker Schule beschäftige, fallen mir immer mehr Grenzen und hinderliche Überzeugungen auf. Bei mir, bei anderen, in der Gesellschaft.
Es fühlt sich manchmal an, als würde ich zurückfallen, weil die Herausforderungen nicht abreißen. Tatsächlich erreiche ich unüberschaubare Streckenabschnitte, für die es noch kein Navi gibt.
Was führt mich dadurch? Zum einen meine Werte, mein innerer Kompass. Partizipation und Selbstwirksamkeit sind mir wichtig, wie kann ich sie also umsetzen? Zum anderen meine Vision von Schule. Welches größere Bild steht für mich dahinter? Wo soll es hingehen?
Mit neuen Lernformaten allein ist es nicht getan!
Es ist längst nicht damit getan, neue Lernformate einzuführen. Ein weiterer Schritt sollte sein, unser Selbstverständnis als Lehrkräfte zu reflektieren.
So wie die Schüler:innen dabei begleitet werden müssen, mit der neuen Freiheit umzugehen, so brauchen wir Begleitung bei der Umsetzung der neuen Rolle als Lernbegleiter:in.
Das geht nicht automatisch.
Ein Ansatz wäre, einen Raum dafür zu schaffen, Gefühle und Bedürfnisse bewusst zu thematisieren. An welche Grenze stoße ich in meiner neuen Rolle? Was fehlt mir? Was inspiriert mich in meiner neuen Art zu arbeiten? Welche Bedürfnisse kann ich mir leicht dadurch erfüllen? Welche nicht?
Klar könnte man argumentieren: Entscheidet sich ein Kollegium mehrheitlich für ein pädagogisches Programm, müssen alle mitziehen. Regeln und so 😉 So einfach ist das nicht. Dieser Weg ist eben streckenweise ohne Navi und jedes Kollegium muss die eigenen Route ausloten. Selbst wenn die Schule Teil einer Initiative wie ‚Schule im Aufbruch‘ ist, können wir keine Formate 1:1 von anderen Netzwerkschulen kopieren.
Außerdem gibt es Kolleg:innen mit Widerstand – für sie sind neue Lernformate und eine neue Lehrerrolle eine Bedrohung. Der Widerstand wiederum kann das gemeinsame Vorhaben gefährden, weil Einzelne dann dazu tendieren, ihr eigenes Ding zu machen. Das Einzelkämpfertum lässt sich als Lernbegleiter:in jedoch nicht aufrecht erhalten.
Schulentwicklung braucht Zeit
Insgesamt ist es nicht verwunderlich, dass ich erst 10 Jahre nach dem Gespräch mit meinem Professor allmählich meinen Weg als Lernbegleiterin finde – und das, obwohl ich mich seit Jahren intensiv mit Schulentwicklung beschäftige. Es braucht Zeit für den Denkwandel an Schulen und in den einzelnen Köpfen der Lehrkräfte. Wir brauchen mehr solcher Initiativen wie ‚Schule im Aufbruch‘, damit mehr Vorbilder in der Praxis da sind. Das ‚Wie‘ ist der Knackpunkt: Wir finden es nur heraus, wenn wir den Weg aktiv und gemeinsam gehen.