Ich glaube, dass Selbstreflexion eine zentrale Aufgabe von Menschen ist, die mit Kindern und Jugendlichen zusammen sind. Das betrifft Lehrer:innen, Erzieher:innen und andere pädagogische Kräfte genauso wie Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel…So finden wir heraus, unter welchen Bedingungen es uns gut geht und können selbst dafür sorgen. Wir können uns zu 100% zeigen, weil wir wissen, dass wir ok sind.
Davon profitieren unsere Kinder mehr als von speziellen Erziehungsmethoden. Und auch der alte Müll muss weg! Damit meine ich gedanklichen Müll wie Vorwürfe, ungeklärte Konflikte und Unvollständigkeiten. Denn wenn wir das nicht lösen, müssen unsere Kinder das weiter tragen.
Wir können uns also verschiedene Fragen stellen: Wie bin ich die geworden, die ich heute bin? Wer war für mich Vorbild, wer nicht? In welchen Situationen habe ich mich früher bestärkt gefühlt, in welchen klein? Habe ich noch Vorwürfe an Erwachsene, weil sie etwas (nicht) hätten tun sollen?
Ich habe mir diese und weitere Fragen gestellt und Antworten gefunden. Heute kann ich rückblickend einschätzen, an wem ich mich orientiert habe und wieso. Inspiriert von Anna Noß bei kinderwärts schreibe ich diesen Brief an einige meiner ehemaligen Lehrer:innen, um Danke zu sagen.
Als Kind hatte ich viele Berufswünsche und Lehrerin wollte ich erst werden, als ich in der Oberstufe war. In die Schule bin ich gerne gegangen, nicht unbedingt wegen des Unterrichts, phasenweise auch nur wegen meiner Freunde. Und doch gab es viele Lehrer:innen, die ich mochte. Launige, ungerechte, langweilige waren in der Minderheit. Da habe ich es wohl gut getroffen.
Liebe Frau Knees…
Ich bin heute Lehrerin, weil Sie mich damals in meinem Pädagogikunterricht so beeindruckt haben! Alle waren sofort hin und weg, als Sie als Referendarin hinter unserem Lehrer den Flur entlang kamen, blonde Locken, freundlich lächelnd: „Hallo ihr Lieben!“ Ich habe die Wertschätzung darin gehört, nicht aufgesetzt, nicht um zu gefallen. Sie mochten uns. Im Unterricht erschien alles einfach und manchmal haben Sie in Ihrer eigenen Doktorarbeit nachgeguckt, als es um Sprachentwicklung ging. Ja, Sie haben es fertig gebracht, vor dem Schuldienst zu promovieren – als wäre das nichts. Und dabei waren Sie nie überheblich, sondern haben uns gezeigt, was möglich ist, wenn man das tut, was man gut kann.
Morgens habe ich hin und wieder Ihre Augenringe gesehen und Sie sagten sogar: „Ob ich diesen Beruf für immer mache, weiß ich nicht.“ Ich fand das so cool, endlich jemand, der ehrlich war und den Beamtenstatus auch wieder abgeben würde, wenn es nicht mehr passt. So viele Lehrer ruhten sich darauf aus und machten seit Jahren den immer gleichen Unterricht. Gab es Schwierigkeiten mit Ihren Prüfungsterminen, blieben Sie ruhig und meinten: „Ich kümmere mich darum. Wir finden eine Lösung.“ Ich wollte nach Ihrem Vorbild unbedingt Pädagogiklehrerin werden: wertschätzend, interessiert an den Schüler:innen, zuversichtlich, begeistert über die Inhalte.
Heute weiß ich, wieso ich in Ihnen ein Vorbild sah. Ich wollte lange Zeit immer etwas Besonderes und die Beste sein. Mittlerweile habe ich erkannt, wie begrenzt das funktioniert, wenn ich dauerhaft erfüllt sein will. Ist man nämlich besonders, ist man auch nie wirklich mit Menschen verbunden, denn es dreht sich letztlich alles um mich. Heute bin ich genau die Lehrerin, die ich damals sein wollte – eben weil ich nichts Besonderes mehr sein muss. Ohne diese „Ich-bin-besonders-Brille“ sieht es sich viel klarer.
Latein ist tot, es lebe Latein!
Latein mochte ich von Anfang an, zunächst noch bei Frau T., später bei Ihnen, Frau Lange. Ihre Liebe zum Fach hat Sie über viele Jahre durch den Lehrerberuf getragen und Ihren Unterricht besonders gemacht. Sie wollten uns nicht davon überzeugen, dass Latein mega spannend ist – für Sie selbst war es so, nach dem Motto ‚Latein ist tot, es lebe Latein!‘. Einmal kamen Sie in den Klassenraum und fragten uns: „Wer möchte heute unterrichten? Ich setze mich mal daneben.“ Da stand ich also vorne und hatte Spaß bei der Satzanalyse von Cicero! Meine Mitschüler:innen fanden die Abwechslung genauso gut und mein Berufswunsch Lehrerin festigte sich.
Heute stehe ich nicht mehr so oft vorne, ich lasse meine Schüler:innen zusammen arbeiten oder auch vorne selbst etwas erklären. Den Mehrwert davon habe ich in meinem Matheunterricht bei Herrn Jennen erlebt. Sie wussten, dass wir einander Manches besser erklären können und haben das nicht als Angriff auf Ihre Kompetenz erlebt, sondern es genutzt. Sich als Lehrerin irgendwann überflüssig zu machen, ist seitdem einer meiner Leitsätze. Wo brauchen die Schüler:innen mich (noch), wo nicht? Auch deshalb liegt mir die gehirngerechte Methode nach Birkenbihl so sehr.
Was ich nicht übernehmen wollte
Klar gab es auch Einiges, was ich nicht übernehmen wollte. Schlimm fand ich die Lehrer:innen, die so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie die Kinder gar nicht im Blick hatten. Manche meiner Mitschüler:innen machten sich daraus einen Spaß und der Unterricht lief gar nicht mehr. Ich hatte dann grundsätzlich Mitleid mit den Lehrer:innen (ja, so eine war ich), war aber zugleich auch wütend darüber, dass überforderte Lehrkräfte folgenlos im Dienst blieben. Oder die frustrierten Lehrer:innen, die in Schüler:innen den Dämon sahen, allen misstrauten und über Noten ihre Macht demonstrierten. Ganz zu schweigen von denjenigen, die uns bloßstellten oder abfällig über uns sprachen.
In Biologie begann die Stunde damit, dass Herr V. jemanden aufforderte, über die letzte Stunde zu berichten und das auch bewertete. Das war für uns wie ein Tribunal, ich weiß noch, wie nervös ich immer war und dachte: „Bitte nehmen Sie mich nicht dran!“ Naja, geholfen hat es nicht. Oder die Vokabelabfrage zu Stundenbeginn bei einer anderen Lehrerin; alle Schüler:innen stehen und wer eine Vokabel richtig beantwortet, darf sich setzen. Wer sie nicht weiß, bleibt solange stehen, bis es soweit ist…als ob dieses An-den-Pranger-Stellen dazu verleitet, Vokabeln zu lernen!
Was ich mir wünsche
Wie wunderbar ist das in meiner Vorstellung, wenn Lehrer:innen ihre Schüler:innen respektieren. Wenn sie deren Grenzen achten und ihnen Vertrauen schenken. Wie heilsam, wenn Lehrkräfte ihre eigenen Grenzen kennen und zeigen und sich selbst vertrauen. Dann sind sie keine autoritären Personen, sondern Personen mit Autorität. Heutzutage wird Lehrer:innen nicht mehr respektvoll begegnet, nur weil sie Lehrer:innen sind, sondern weil sie auch respektvoll agieren. Damit haben sie unter Umständen zwar keine Lobby im Kollegium, dafür aber Schüler:innen, die sich wahrgenommen fühlen.
Ich wünsche mir, dass Schule kein Ort der Angst und Moral ist, sondern ein Treffpunkt von Neugierde und Respekt. Seit ich diesen Blog schreibe, weiß ich: Ich bin damit nicht allein!